Ein Schöner Ort Zum Sterben
aufpassen! Das ist doch wohl ein freies Land hier, oder nicht? Ich kann tun und lassen, was ich will!«
»Äh, was ist denn hier los?«, mischte sich eine schüchterne Stimme ein. Helen wandte sich um und sah einen nervösen jungen Mann mit einem Bart und einer Tweedjacke.
»Ich bin Lehrer«, fügte er unnötigerweise hinzu. Helen öffnete den Mund zu einer Erklärung. Nikki nutzte die unerwartete Chance aus und rannte die Straße hinunter davon.
»Oh …« Fast hätte Helen eines von Nikkis ausdrucksvollen Schimpfworten benutzt, doch sie hielt sich gerade noch im Zaum. Sie drehte sich zu dem Bärtigen um.
»Dieser Paul Harris«, sagte sie.
»Wo wohnt der Junge?«
Die Harris-Familie wohnte in einer Mietswohnung über einem Wohltätigkeitsladen. Der ebenerdige Eingang wurde von einem hageren jungen Mann mit fettigen Haaren geöffnet. Er starrte auf Helens Dienstausweis.
»Was wollen Sie von ihm? Ich bin sein Bruder.«
»Ich möchte mich mit ihm über eine Prügelei nach der
Schule unterhalten.«
»Du meine Güte!« Er blickte entrüstet drein.
»Seit wann kümmern sich die Cops um Schulkinder, die eine Meinungsverschiedenheit austragen, eh? Haben Sie nichts anderes zu tun? Hier, unser Paul hat das meiste abgekriegt. Sie hat ihn ins Gesicht getreten, und einer seiner Vorderzähne ist abgebrochen! Sie sollten zu ihr gehen, nicht zu Paul! Kommen Sie ruhig rein und sehen Sie sich an, was das kleine Miststück ange richtet hat.« Die Wohnung war mit billigen Möbeln, billigen Vorhängen und billigem Teppichboden ausgestattet. Vieles davon sah aus, als stammte es aus dem Laden unten im Erdgeschoss. Im Kontrast dazu standen allerdings die modernsten und kostspieligsten elektronischen Apparate herum. Helen sah einen Fernseher, einen Videorekorder, eine HiFi-Anlage und einen CDPlayer.
»Mum ist arbeiten«, sagte Pauls Bruder.
»Ich heiße Dom. Paul wäscht sich im Badezimmer das Blut aus dem Gesicht. Ich geh ihn holen.« Während er weg war, öffnete Helen eine Tür und spähte in den dahinterliegenden Raum. Es war die Küche. Auf einem Tisch lag neben einer Dose gebackener Bohnen eine Packung Hamburger irgendeiner Billigmarke und taute auf. Doch es gab nicht nur einen einfachen, fettbespritzten Gasofen, sondern auch einen hochmodernen Mikrowellenherd. Sie wandte sich um, als Dom zurückkehrte.
»Ich wollte uns gerade etwas zu essen machen«, sagte er und nickte in Richtung Küche.
»Aber ich weiß nicht, ob er überhaupt kauen kann. Er ist ziemlich schlimm zugerichtet. Zeig es ihr, Paul.« Hinter Dom tauchte eine kleinere, schmalere Gestalt auf. Paul schob seine geschwollene Oberlippe mit dem Zeigefinger hoch und murmelte irgendetwas. Der Vorderzahn war tatsächlich abgebrochen. Paul nahm den Finger von der Lippe und sagte ein wenig deutlicher:
»Sie hat angefangen.«
»Sich von einem Mädchen verprügeln zu lassen!«, sagte Dom entrüstet.
»Sie hat mich angesprungen! Sie ist völlig durchgedreht!«
»Schon gut«, unterbrach Helen die beiden Brüder.
»Ich bin nicht wegen eurer Prügelei gekommen. Es geht eigentlich mehr um die Tatsache, dass du Nikki mit Schimpfnamen bedacht hast. Sie sagt, du hättest sie eine Schlampe genannt.«
»Warum auch nicht?«, fragte Dom streitlustig.
»Sie ist doch eine!«
»Tatsächlich?« Helen wandte sich dem größeren der beiden Brüder zu.
»Natürlich! Jeder weiß das! Ich hab selbst gesehen, wie diese Nikki in den Pubs auf Männerfang gegangen ist – zusammen mit dieser anderen, die sich hat umbringen lassen. Meistens konnte man sie am Wochenende sehen, aber manchmal waren sie auch mitten in der Woche unterwegs. Sie waren überall bekannt.«
»Das wissen Sie ganz sicher, ja?«
»Ich sage Ihnen doch, ich hab sie selbst gesehen!«, beharrte Dom. Unvermittelt schlich sich ein misstrauischer Ausdruck auf sein Gesicht.
»Hey, sehen Sie mich nicht so an! Ich hab sie nur gesehen! Ich hab nie für irgendwas bezahlt!« Er zögerte, dann grinste er selbstgefällig.
»Ich bezahle nie dafür.«
»Waren es immer nur die beiden Mädchen?« Er überlegte.
»Manchmal waren auch andere dabei, aber ich kenne ihre Namen nicht. Sie kamen und gingen, aber Nikki und diese andere, Lynne, sie waren immer da, wenn Sie verstehen, was ich meine. Früher war noch ein drittes Mädchen bei ihnen, aber das ist schon ziemlich lange her. Ich fand sie ziemlich nett. Lynne fand ich nicht gut, und diese Nikki – ich hätte schon ziemlich verzweifelt sein müssen, was ich nicht bin …
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