Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
dass ich Ihren letzten Kaffee gestohlen habe.“
„Wenn du Milly nichts erzählst, verzeihe ich dir“, sagte er und zwinkerte. „Ich soll nämlich keinen Kaffee trinken. Mein Herz, verstehst du? Aber an solchen Tagen wie diesen, da kann ich einfach nicht widerstehen.“
Ich nahm einen Schluck aus der Tasse und riss die Augen auf. Es war ein sehr starker Kaffee, doch was mich husten ließ, war nicht das Koffein.
„Ist da Whisky drin?“, keuchte ich.
Rupert MacDonald lachte laut auf, und es klang so ansteckend, dass ich einfach in sein Gelächter mit einstimmen musste. Whisky noch vor zwölf – was soll’s, dachte ich, hob die Tasse in seine Richtung und nahm gleich noch einen Schluck, was mir ein beifälliges Nicken und ein „Slainte, a laoigh!“ einbrachte.
„Was heißt das?“, fragte ich ihn.
„Hm, ich glaube, in England sagt man Cheers, oder?“
„Oh, ja! Bei uns sagt man Prost.“
„Prost?“, wiederholte er und rollte die Buchstaben durch seinen schottischen Akzent, als säße ein garstiger Terrier in seiner Kehle.
„Ja, Prost!“, sagte ich lachend, nahm einen weiteren Schluck aus meiner Tasse und blickte beschwipst hinaus in den Morgen.
„Solches Licht gibt es nur hier, weißt du?“, sagte Rupert und wies mit seiner Tasse über das Tal. „Der Herrgott liebt den Anblick der Highlands, und deshalb schenkt er diesem Landstrich an manchen Tagen so viel Licht wie möglich, um jede Faser eines Blattes, jede noch so kleine Blüte, jeden Grashalm und jegliches Getier genau betrachten zu können.“
Er hatte recht. Das Licht hier war anders. Als hätte die Sonne ihren Glanz durch einen Kristall zur Erde gesandt. Am anderen Ufer des Sees dehnten sich gigantische Bergketten aus, deren Formen sich heute scharf umrissen von dem blauen Himmel abzeichneten und wie stumme Hüter über dem Tal wachten. Nicht furchteinflößend oder bedrückend, aber doch ein wenig einschüchternd. Und da es heute windstill war, spiegelte sich das Gebirgsmassiv in der Oberfläche des Sees.
„Sieht aus, als wüchse das Gebirge in den See hinein“, sagte ich und nickte auf das Spiegelbild der Berge.
„Mhm, daher hat der See auch seinen Namen. Loch Monadail bedeutet buckliger See. Sieh mal da, Kleines! Mackenzie ist auf Fischfang.“
„Mackenzie?“ Ich blickte in die Richtung, in die er zeigte, sah dort jedoch nur ein Stück dunkles Holz im Wasser treiben. Doch auf einmal machte das Holz einen Satz und verschwand unter Wasser. „Huch!“, rief ich und lachte.
„Das ist Mackenzie. Ein Fischotter. Kennst du die Geschichte des Black Fearghas?“, fragte Rupert und lächelte mich an.
„Nein. Wer ist das?“
„Fergus Mackenzie war ein berüchtigter Wegelagerer, der vor über zweihundert Jahren die Gegend in Angst und Schrecken versetzte und bis zuletzt den Fängen der Black Watch immer wieder entwischte. Die Legende besagt, dass die Wache ihn bis hierher verfolgt hatte und er ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert gewesen wäre, wenn ihm nicht im letzten Moment ein Kelpie zu Hilfe gekommen wäre. Fergus kletterte auf seinen Rücken und wurde nie wieder gesehen.“
„Was ist denn ein Kelpie?“
„Kelpies sind Wasserpferde. Prächtige Tiere. Sie locken ihre Reiter in die Tiefen des Lochs, wo sie zu Hause sind.“
„Dann ist dieser Fergus also hier ertrunken?“
Rupert lachte. „Aye, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.“
„Und worin besteht bitte die Verbindung zwischen ihm und diesem Fischotter?“
„Milly ist der Meinung, dass unser Mackenzie hier der wiederauferstandene Black Fearghas ist. Ein Wegelagerer und Dieb, wie er im Buche steht. Sie hat schon so manchen Fisch an Mackenzie abgeben müssen.“
„Alles hier hat seine Geschichte, nicht wahr?“, fragte ich lächelnd.
„Sicher, a laoigh! Wir sind hier in den Highlands. In Caitlin Gardens. Dieses Tal ist verwunschen, kleine Jo.“
„Verwunschen?“
„Aye! Schau! Da hinten. Siehst du? Hinter dem Obstgarten? Da befindet sich der große Steinkreis mit der Maighdeann uaine -Quelle, die den Bach speist. Dort geht seit Jahrhunderten eine Jungfer im grünen Kleid um, eine Glaistig . Sie erscheint dort jede Nacht und gießt Wasser aus einem Tonkrug in die Quelle, damit der Lauf des Baches niemals versiegt. Es heißt, die Feen des Waldes hätten sie dazu verdammt, weil sie ungefragt aus dem Bach getrunken hätte. Und da! Siehst du die kleine Lichtung? Daneben liegt Bocan uaimh . Das ist eine Felsnase, die über dem See hängt, eine etwa
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