Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
heran, und als sie näher kam, sah ich sofort die Ähnlichkeit. Ihr Mund war zwar nicht so breit, aber genauso geschwungen. Und wenn mich meine Augen nicht trogen, waren ihre so grün wie das Gras im Vorgarten.
„Hi!“, sagte sie und reichte mir die Hand. „Ich bin Maggie. Die Schwester dieses treulosen Kleiderschranks, und wenn du nach dreißig Minuten immer noch fliehen möchtest, zeige ich dir den Fluchttunnel, der von Großmutters Schlafzimmer abgeht.“
Ich blickte Marlin an, der lächelnd den Kopf neigte und mit den Schultern zuckte, dann ergriff ich Maggies Hand. „Hallo, ich bin Jo. Schön, dich kennenzulernen.“
„Du hörst dich an, als ob du ein Gedicht aufsagst.“
„So komme ich mir auch vor“, erwiderte ich und lächelte endlich.
„Gut! Und jetzt steig aus!“, sagte Marlin. „Ich verspreche dir auch, dass der Rest ein Kinderspiel wird.“
An der Tür stand ein eleganter älterer Herr mit freundlichen braunen Augen und hieß uns mit einem Lächeln willkommen.
„Guten Abend, Alfred!“, sagte Marlin.
„Ihnen auch einen guten Abend, Sir!“, erwiderte der Mann und nickte mir höflich zu. „Miss?“
„Guten Abend!“, antwortete ich.
„Jo, das ist Alfred, der Majordomus dieses Hauses.“ Marlin lächelte und reichte Alfred meine Jacke, woraufhin dieser sich mit einem Kopfnicken zurückzog.
„Und nachts ist er der Majordomus meiner Großmutter“, raunte Marlin mir leise ins Ohr und schob mich, ohne auf meine Schnappatmung zu reagieren, in Richtung eines hell erleuchteten Salons, aus dem wütendes Gekläff zu hören war. Es waren zwei kleine weiße Terrier, die sofort angelaufen kamen und sich schwanzwedelnd um Marlins Beine drängten.
„Hamish! Lilly! Sheas! “, rief eine hohe Stimme, und die beiden Vierbeiner rannten sofort zurück zu ihrem Frauchen – einer weißhaarigen, aber wunderschönen Dame. Sie saß aufrecht in einem Sessel und lächelte uns milde entgegen. Je näher wir kamen, umso mehr veränderte sich ihr Gesicht, bis es einen so amüsierten Ausdruck annahm, dass ich mich fragte, ob ich ein Vogelnest auf dem Kopf hatte.
„Maggie, meine Liebe!“, sagte sie. „Ruf doch bitte Lord Munro an und sage ihm, ich nehme den Kabardiner-Hengst. Ich bin gerade zu Geld gekommen.“
Marlin blieb stehen, blickte seine Großmutter an und hob eine Augenbraue. „Das war niemals ernst gemeint, Grandma!“
„Oh, doch!“, rief sie, erhob sich aus dem Sessel, kam mit ausgestrecktem Zeigefinger auf uns zu und bohrte ihn Marlin in die Brust. „Du sagtest, und ich wiederhole nur deine Worte: Wenn ich noch mal mit diesen Haaren hier auftauche, kannst du mich enterben.“
„Ich mag seine Haare“, sagte Maggie.
„Ja, ich auch“, fügte ich hinzu und wurde sofort von klugen grauen Augen gemustert.
„Ach!“, meinte Marlins Großmutter. „Tatsächlich?“
Ich zuckte mit den Schultern, und da mir nichts Besseres einfiel, versuchte ich mich an einem Knicks und sagte: „Guten Abend, Ma’am! Ich bin Johanna.“
„Hast du was mit der Hüfte, mein Kind?“, fragte sie und neigte den Kopf.
„Ähm, nein, ich …“
„Lass dich nicht von ihr auf den Arm nehmen, Jo“, sagte Marlin. „Meine Großmutter ist ein kleines, raffgieriges Ungeheuer und hält von Etikette genauso viel wie von Krankheiten.“ Er küsste sie auf die Wange und lächelte. „Guten Abend, Grandma!“
„Ich bin zweiundsiebzig und kerngesund!“, rief sie.
„Eben.“
„Wahnsinn!“, sagte ich aus einem Impuls heraus und starrte sie an. Ich hatte sie zwanzig Jahre jünger geschätzt.
Sie wandte den Blick von Marlin ab und musterte mich. Plötzlich hoben sich ihre Mundwinkel, und ihre Augen leuchteten auf. „Du kannst deine Haare behalten, Junge“, sagte sie in Marlins Richtung und hakte sich bei mir ein. „Ich bin Lady Ellen, meine Liebe. Und bitte, mach nie wieder so einen Knicks.“
„Deinem Akzent nach zu urteilen, kommst du vom Festland? Deutschland?“, fragte Lady Ellen und nickte nebenbei den livrierten Mädchen zu, die sofort mit dem Auftragen der Speisen begannen.
„Ja“, erwiderte ich. „Das ist richtig. Ich bin in Köln geboren. Meine Eltern wohnen noch immer dort.“
„Und wie alt bist du?“
„Ich bin siebenundzwanzig, Ma’am.“
„In deinem Alter war ich schon verheiratet“, sagte sie und hob ihr Glas an die Lippen.
„Nun ja, ich …“
„Nein, nein!“, rief sie und winkte ab. „Das war kein Vorwurf. Ich weiß, dass diese Dinge heute etwas anders sind als zu meiner
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