Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)
Zeit. Aber Kinder hast du noch nicht, oder?“
„Grandma!“, warf Marlin tadelnd ein.
„Was denn? Sieh mich nicht so an, Junge! So was kann heutzutage durchaus vorkommen.“
„Das stimmt“, sagte ich, denn ich fühlte mich, trotz ihrer Fragen, kein bisschen angegriffen. „Aber, nein. Ich habe noch keine Kinder.“
„Aber du möchtest welche – irgendwann.“
„Ja, natürlich“, entgegnete ich und schmunzelte.
„Hm-mh“, erwiderte sie und schmunzelte ebenfalls. „Was machen deine Eltern, mein Kind?“
„Grandma! Jetzt reicht es!“, sagte Marlin. „Ich hatte Jo versprochen, dass es nicht wie auf einem Basar wird.“
„Nein, ist schon gut!“, erwiderte ich und lächelte. „Mein Vater ist Zahnarzt, Lady Ellen. Meine Mutter ist Lehrerin an einer Privatschule.“
„Und du selbst?“, fragte sie, ohne auf Marlins Zähneknirschen zu achten. „Was machst du?“
„Momentan jage ich Gespenster auf Caitlin Castle“, sagte ich, doch der empörte Blick, den ich erwartet hatte, blieb aus. Stattdessen nickte sie, schnitt ihr Lammfilet in Stücke und meinte: „Wir haben hier auch so einen Quälgeist. Er versteckt laufend meine Pillen.“
„Du versteckst deine Pillen selbst, Grandma“, sagte Maggie. „Wenn Alfred sie nicht immer wiederfinden würde, wärst du schon lange tot.“
„Alfred und dieser Quacksalber, der sich Doktor nennt, stecken ja auch unter einer Decke.“
„Aber du nimmst deine Medikamente doch, oder?“, fragte Marlin und warf seiner Großmutter einen kritischen Blick zu.
„Ja, natürlich!“, rief sie. „Alfred würde sonst kündigen.“
„Guter Mann!“, meinte Marlin und grinste verschlagen.
„Hattest du nicht gesagt, Rabby wäre zurzeit auch auf Caitlin Castle?“ Lady Ellen blickte Marlin neugierig an.
„Aye, das sagte ich.“
„Nun!“, erwiderte sie und lächelte mich an. „Dann kennst du meinen anderen Enkel auch.“
„Ähm, ja – Ma’am.“ Ich hoffte sehr, dass mein Gesicht ausdruckslos blieb, doch ein Blick in Lady Ellens Augen ließ mich vermuten, dass dem nicht so war. Zu meiner immensen Erleichterung hakte sie jedoch nicht nach, sondern ließ ihren Blick nur eine Weile zwischen mir und Marlin hin und her wandern.
„Und?“, fragte Maggie als rettender Engel. „Wie sieht so eine Geisterjagd aus?“
„Ziemlich verstaubt. Im Augenblick wühle ich mich nur durch alte Handschriften.“
„Was für Handschriften sind das?“, wollte sie wissen.
„Oh, ähm, Briefe und Notizen einer Annie.“
„Annella’bán ? “
„Wie bitte?“
Lady Ellen lächelte. „Hat dir dieser Tunichtgut von Verwalter etwa noch nicht die Legende der weißen Annie erzählt? Rupert MacDonald ist doch sonst so versessen auf seine Ammenmärchen.“
„Nun, nein, ich glaube … Moment mal, wie nannten Sie sie?“
„Annella’bán . “
„Die Seehundfrau!“, rief ich. „Doch, er hatte sie erwähnt. Sie soll auf Caitlin Castle gelebt haben, nicht wahr?“
„Kennst du die Geschichte, Grandma?“, fragte Maggie.
„Natürlich kenne ich sie.“
„Dann erzähl sie uns doch bitte!“
Marlin lächelte, nahm die Weinkaraffe und Lady Ellens Glas und schenkte ihr von dem duftenden Burgunder nach. „Hier!“, sagte er. „Als Honorar!“
Lady Ellen lächelte und lehnte sich zurück. „Nun, wie ihr wollt. Also, einstmals lebte ein junger Mann auf Caitlin Castle. Ein englischer Magier, hieß es, sei er gewesen. Er war auf einem nächtlichen Spaziergang durch den Garten, als er am Ufer des Loch Monadail eine junge schlafende Frau fand, die nichts am Leib trug als ihr langes, schwarzes Haar. Und neben ihr lag das Fell eines Seehunds. Es heißt, dass das Mondlicht ihren Leib in weißes Licht hüllte, wonach man ihr den Namen Annella’bán gab, weiße Annie. Nun, der junge Magier verliebte sich natürlich unsterblich in sie, nahm sie auf seine Arme und trug sie zurück in die Burg. Das Seehundfell jedoch vergrub er tief in den Kerkern, wo er hoffte, dass sie es nie finden würde. Die weiße Annie erwachte am Morgen und blieb von da an bei dem jungen Magier, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Dies erzürnte eine junge Dienerin des Magiers, die diesen heimlich liebte, und aus Eifersucht lockte sie Annie in die Kerker der Burg, wo sie sie einsperrte. Nicht ahnend, dass Annie genau dort das Seehundfell wiederfinden würde. Als die Dienerin am Abend mit einem Messer bewaffnet in die Kerker ging, um Annie zu töten, fand sie dort nur noch den Seehund vor. Aus Angst vor
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