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Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)

Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein schottischer Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maryla Krüger
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den Flüchen der Geisterwelt nahm sich die Dienerin an Ort und Stelle das Leben, und der Seehund floh.“ Lady Ellen neigte lächelnd den Kopf. „Die weiße Annie wurde nie wieder gesehen, aber es heißt, dass der Geist des Magiers noch heute am Ufer des Loch Monadail entlanggeht, auf der Suche nach ihr.“
    Niemand am Tisch sagte ein Wort. Lady Ellen nahm ihr Glas Wein und trank einen kräftigen Schluck. Dann stellte sie es wieder ab, blickte in die Runde und lächelte. „So weit die Legende“, sagte sie. „Aber es gab auf Caitlin Castle tatsächlich mal eine Annie – Annie Guthrie. Und das Gerücht, dass diese Annie und die Silkie namens Annella’bán ein und dieselbe Person sind, hält sich bis heute.“
    Ich hob den Kopf und blickte Lady Ellen an. „Annie Guthrie?“
    „Aye, als ich siebzehn war, hat meine Großmutter immer gesagt, ich würde noch so enden wie Annie Guthrie, wenn ich nicht so schnell wie möglich einen anständigen Mann heiraten würde.“
    „Wie ist diese Annie Guthrie denn geendet?“, fragte ich.
    „Schwanger und unverheiratet natürlich.“
    „Und wann hat sie gelebt?“
    „Oh, das muss so etwa Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gewesen sein. Alles, was meine Großmutter über sie wusste, war auch nur weitergetragen worden, um alle jungen Mädchen vor dem Verderben und der Schande einer unerwünschten Schwangerschaft zu warnen. Soweit ich weiß, war sie von einem Tag auf den anderen verschwunden, und dieser Lord Samuel, der auf Caitlin Castle wohnte, auch. Daraus entstand die Legende der weißen Annie. Alle Legenden haben einen wahren Kern, meine Liebe.“
    „Annie Guthrie“, murmelte ich.
    „Sie soll das zweite Gesicht gehabt haben“, fuhr Lady Ellen fort. „Aber wenn es so war, hätte sie ihr Ende doch kommen sehen müssen, oder etwa nicht.“
    Sie sagte das so überzeugt, dass ich nur mit den Schultern zucken konnte. Waren diese Aufzeichnungen, von denen ich dachte, es wären Annies Träume, niedergeschriebene Bilder einer sogenannten Seherin?
    Und hing das irgendwie mit dem zusammen, woran Milly MacDonald litt? Hatten beide eine psychosomatische Störung – oder was steckte da wirklich dahinter?
    Nach dem Essen fuhr Maggie zu einer Freundin, und Lady Ellen setzte sich mit ihren Hunden und einer Stickerei vor den Fernseher, während Marlin und ich einen Spaziergang durch das Haus unternahmen. Es war längst nicht so groß wie Caitlin Castle, doch umso mehr gab es für mich zu entdecken, denn überall an den Wänden und auf den Wandborden befanden sich Bilder von Marlin, Ryan und den anderen Familienmitgliedern. Vor einem kleinen Foto, auf dem Ryan in das Ornat der Oxford-Absolventen gekleidet war, blieb ich stehen. „Warum nennst du ihn eigentlich Ray?“, fragte ich und drehte mich zu Marlin um.
    „Einerseits um ihn zu ärgern“, sagte er und grinste. „Er hasst diesen Namen. Andererseits bin ich es so gewohnt. Da schau! Mein Großvater.“
    Er wies auf ein gigantisches Ölgemälde, auf dem ein streng aussehender Mann in schottischer Tracht in einem alten Lehnstuhl saß. „Ich vermute, Charles Dickens hat ihn als Vorbild für Ebenezer Scrooge genommen.“ Marlin neigte den Kopf.
    „Das kommt zeitlich nicht ganz hin“, meinte ich lächelnd. „Es sei denn, Dickens hatte Besuch vom Geist der zukünftigen Weihnacht. Und der hier? Ist das Tiny Tim?“
    „Nein. Scrooges Sohn. Mein Vater.“
    Ich lachte. Auf dem Bild war ein Knabe in karierten Hosen zu sehen, der die linke Hand im drahtig aussehenden Fell eines kalbgroßen, hässlichen grauen Hundes vergraben hatte.
    „Du und Ryan – ihr habt also den gleichen Vater.“
    Marlin nickte. „Aye“, sagte er. „Wir haben beide innerhalb von nur vier Monaten unsere Mütter verloren. Ray war erst zwei. Ich war sieben. Bis er vierzehn war, dachte Ray stets, wir hätten auch dieselbe Mutter gehabt, und ich habe ihn all die Jahre in dem Glauben gelassen. Unser Vater ebenfalls. In einem blöden Streit habe ich seine Mutter als irische Schlampe bezeichnet, die ihren Sohn nicht wollte. Von da an war alles anders.“
    „Das ist eine traurige Geschichte.“
    „Aye, das ist sie, und glaube mir, ich habe mich schon mehr als hundert Mal dafür verflucht, dass ich es ihm im Streit und mit solchen Worten gesagt habe. Sieh mal! Da war die Welt noch in Ordnung.“
    Ich drehte mich um. Auch dieses war ein Ölgemälde. Es zeigte zwei Jungen im Kilt vor einem dunkelroten Vorhang, und zwischen ihnen saß ein weiterer Hund, diesmal ein

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