Ein Schuss Liebe kann nicht schaden
Jakob wusste, dass Gottes Antwort nicht besser hätte sein können. Und nicht nur für Emmy-Lou und Annie, sondern auch für mich.
Ihre braunen Augen schauten ihn an, als sie ihre Stimme zu einem leisen Flüstern senkte. „Wenn Sie anderen Frauen solche Sachen vorlesen, das wäre sicher nicht richtig. Aber Sie und ich – wir haben einen Pakt geschlossen. Wir wollen nur das Beste für Annie.“
Du liebe, gute Hope. Für Annie würde sie alles tun, selbst wenn es sie in Verlegenheit brachte. Und sie hatte recht. Es gehörte sich eigentlich nicht, dass ein Mann und eine Frau ein solches Thema diskutierten. Könnte es sein, dass es nicht nur wegen Annie ist? Könnte es sein, dass Hope ganz tief in ihrem Herzen weiß, dass sie mir vertrauen kann?
Hope fuhr fort: „Ich glaube nicht, dass Annie mir das vorlesen sollte. Wenn sie erst mal die Bilder sieht und liest, was auf sie zukommt, dann wird sie bestimmt verrückt vor Angst.“
Jakob nickte. Dasselbe war ihm auch schon durch den Kopf gegangen. „Wenn es so weit ist, hole ich Velma, aber es wäre trotzdem gut, wenn du weißt, was du tun kannst. Sicher ist sicher.“
Die kleinen Löckchen auf ihrer Stirn bewegten sich, als sie nickte. „Es wäre besser, wenn ich genau Bescheid weiß. Nur für den Fall, dass ich Hebamme spielen muss.“
Das Abendessen war ein voller Erfolg. Danach wartete Jakob auf der Veranda, während Hope seine Tochter ins Bett brachte. Durch das offene Fenster konnte Jakob die süße, hohe Stimme von Emmy-Lou hören, die ihr Abendgebet sprach. Hope bestand immer noch darauf, dass sie auf Deutsch beteten. In der letzten Zeit war Hopes Deutsch immer besser geworden. Sie ist nicht gekommen, um alles zu ändern – das hatte sie an ihrem ersten Abend gesagt. Aber das stimmte nicht. Sie hatte seine zerschlagene Familie unter ihre Fittiche genommen und sie so mit ihrer Liebe und Fröhlichkeit umhüllt, dass ihre Wunden langsam heilen konnten.
„Miss Hope? Heute Abend ist es so dunkel.“
„Ja. Das stimmt. Aber denk dran, was ich dir gesagt hab. Selbst wenn du die Sterne nicht sehen kannst, sind sie trotzdem da. Der Mond und die Sterne sind immer am Himmel. Und Gott passt allezeit auf dich auf.“
„Auch“ – Emmy-Lous Stimme wurde ängstlich – „wenn es dunkel ist?“
„Besonders dann, wenn es dunkel ist. Weißt du, in der Bibel steht, dass Gott hell und dunkel gemacht hat. Er wollte, dass es jeden Tag einmal dunkel wird. Da ruhen wir uns aus und schlafen. Wollen wir den letzten Vers von unserem Sternenlied noch mal singen?“
Jakob wurde warm ums Herz. Hope war es wirklich wichtig, dass er ihr heute Abend aus dem Buch vorlas, und trotzdem nahm sie sich Zeit für seine Tochter. Das bekannte Lied wehte durch das offene Fenster zu ihm heraus auf die Veranda.
Funkel, funkel, kleiner Stern,
Ach, was haben wir dich gern,
Strahlend schön am Himmelszelt,
Erleuchtest hell die ganze Welt,
Funkel, funkel, kleiner Stern
Ach, was haben wir dich gern.
„Funkel, funkel, kleiner –“, stimmte Jakob leise mit ein und grinste. Das Leben war wieder schön geworden. Er rutschte auf seinem Stuhl ein wenig nach vorn, um sich bequemer hinzusetzen, da knisterte etwas in seiner Tasche. Der Brief. Er beugte sich vor, zog ihn aus der Tasche und öffnete ihn.
Jetzt zwölf Dollar im Monat. Konrad .
Jakobs Mund wurde trocken. Er zerknüllte das Stück Papier in seiner Faust. Zwölf. Konrad hätte genauso gut zwölftausend verlangen können.
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Kapitel 20
Konrads schweißnasses Hemd klebte an seinem Körper und der Hunger nagte an ihm. Schweiß tropfte von seiner Stirn und brannte in seinen Augen, als er sich erschöpft auf den Boden fallen ließ. Gierig zog er die beiden Eimer zu sich. Das Wasser erst mit der Schöpfkelle herauszuholen hätte Konrad zu lange gedauert, deshalb hob er gleich den Wassereimer an den Mund. Statt kühlem, erfrischendem Quellwasser, das seine Frau ihm aufs Feld gebracht hatte, musste er sich mit abgestandenem Wasser zufriedengeben, das er morgens in die Eimer gepumpt und hergetragen hatte – und das Wasser war auch noch warm. Mit jedem Schluck wuchs seine Wut.
In dem anderen Eimer war immer dasselbe, jeden Tag – hart gekochte Eier, trockenes Brot, das er in der Stadt gekauft und für die Woche rationiert hatte, und ein Stück gebratener, kalter Schinkenspeck. Heute lag auch noch eine kleine Tomate in dem Eimer, die er im Vorbeigehen von einem der halb
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