Ein Sehnen Im Herzen
getan, was man erwartete?
Sie trug nicht einmal Trauer. Das taubengraue Kleid unter ihrem Umhang sah reichlich abgetragen aus, die Spitzen an den Manschetten waren ausgefranst und die Puffärmel seit einem Jahr aus der Mode. Aber es kam nicht darauf an, was Emma Chesterton anhatte; selbst eine Nonnentracht hätte ihre Schönheit nicht verbergen können.
Mit einem Seufzer starrte James durch die gesprungenen Fensterscheiben der Kutsche auf die Landschaft, durch die sie fuhren. Wie jemand den Wunsch haben konnte, so nah am Meer zu wohnen, war ihm unbegreiflich. Die Klippe, auf der Stuarts Cottage stand, war zweifellos jeden Morgen in Nebel gehüllt und den Rest des Tages unbarmherzig Sonne, Regen oder Schnee ausgesetzt. Kaum ein Baum war in der Nähe zu sehen. Eine ungeschütztere - oder unzugänglichere - Stelle konnte James sich nicht vorstellen.
Und weit und breit kein Zeichen von einem Grabstein. Da James auf dem Friedhof am Rand von Faires kein Grab entdeckt hatte, hatte er angenommen, dass es sich irgendwo auf dieser einsamen Klippe befand. Reverend Peck, Stuarts ehemaliger Vorgesetzter, war ganz und gar keine Hilfe gewesen, was den Aufenthaltsort der sterblichen Ü berreste seines Kaplans anging. Er hatte behauptet, während der Epidemie, die mit Stuarts Tod zusammenfiel, hätte es so viele Todesfälle gegeben, dass es unmöglich gewesen wäre, genau festzuhalten, wer wo beerdigt worden war. Als es so weit war, dass nahezu ein halbes Dutzend Dorfbewohner am Tag starben, hätte man auf Massengräber zurückgreifen müssen. James war ziemlich sicher, dass Emma nie einem Massengrab für ihren Ehemann zugestimmt hätte. Zumindest dafür musste man dankbar sein.
Die Frage, die sich jetzt stellte, lautete natürlich: Was in Gottes Namen sollte er tun? Das alles lief ganz und gar nicht so, wie er es geplant hatte, soweit er in den wenigen Sekunden zwischen dem Augenblick, in dem er Emma durch das gesprungene Glas von Murphys Kutsche gesehen hatte, und dem Betreten ihres Häuschens überhaupt imstande gewesen war, einen Plan zu entwickeln. Er war schnell zu der Erkenntnis gelangt, dass seine Mission, Stuarts Leichnam überführen zu lassen, höchstwahrscheinlich zum Scheitern verurteilt war.
Aber eine andere, weit wichtigere und sehr viel dringlichere Mission hatte sich ergeben, und James war entschlossen, zumindest in dieser Hinsicht nicht zu versagen.
Emma, die dem Earl gegenübersaß, focht keine derartigen inneren Kämpfe aus. Nein, sie hatte das Gefühl, dass die Dinge endlich - endlich! - rosiger aussahen. Nicht nur, dass ihr der Earl keine Frage - nicht eine einzige, dem Himmel war zu danken! - zu Stuarts Tod stellte, hatte er ihr auch den Sitz, von dem man nach vorn sah, überlassen und sich selbst mit dem Rücken zum Fahrer gesetzt. Emma hasste es, gegen die Fahrtrichtung zu fahren.
Aber bald spürte Emma, dass ihr Glück nicht von langer Dauer war... und zwar in dem Moment, als die Wagenräder in eine besonders tiefe Rille in der Straße rutschten, worauf der Earl von Denham vornüber kippte und beinahe vom Sitz flog. Einen unangenehmen Moment lang befürchtete Emma, er würde direkt auf ihrem Schoß landen - warum das allerdings ein so beunruhigender Gedanke war, hätte sie nicht sagen können. Vermutlich, weil er so groß und schwer war und ihr wehgetan hätte, wenn er mit seinem ganzen Gewicht auf sie gefallen wäre.
Zum Glück jedoch fing er den Sturz gerade noch ab. Er lehnte sich zurück, um besseren Halt auf der ungefederten Bank zu finden, und sagte ernst: »Ich bitte um Verzeihung, Emma.«
Sie spähte durch ihre Wimpern verstohlen in seine Richtung. Sie war darum bemüht, eine Fassade kühler Gleichgültigkeit zu wahren, was den Earl anging - obwohl schon der kleinste Blick auf ihn reichte, um ihren Puls flattern zu lassen, wie sie sich eingestehen musste. Natürlich nur, weil er sie einfach rasend machte. Das redete sie sich jedenfalls ein.
»Schon gut«, sagte sie mit aller Nonchalance, die sie aufbringen konnte. »Sie brauchen mich nur bei der Schule abzusetzen, dann kann Mr. Murphy Sie zur Anlegestelle bringen.«
Ihren Worten folgte ein honigsüßes Lächeln.
Dass sie versuchte, ihn loszuwerden, ohne direkt unhöflich zu werden, war nicht zu übersehen. Und James war durchaus bewusst, dass sie guten Grund hatte, über sein Kommen alles andere als erfreut zu sein. Ihre letzte Begegnung war für beide Beteiligten nicht unbedingt angenehm gewesen. Immerhin hatte er, als sie ihn zum
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