Ein sinnlicher Schuft
meinen Vater nicht wirklich gekannt, denn er schickte mich nach dem Tod meiner Mutter zu meiner Tante, wo ich dann aufgewachsen bin.«
»Mit den vielen Cousins. Ja, den Teil kenne ich.«
»Als junger Mann war ich eine glatte Enttäuschung. Ob du es glaubst oder nicht, ich hatte nichts anderes im Kopf, als mit meinem besten Freund Jack ständig irgendwelchen Ärger zu machen. Mein Vater missbilligte natürlich, dass ich meine Studien vernachlässigte, und strich mich vollkommen aus seinen Gedanken. Ich blieb ihm und Tamsinwood, unserem Besitz, fern, und er gab sich die größte Mühe, so zu tun, als hätte es mich nie gegeben.«
Sie drückte ihn schweigend an sich.
Colin fuhr fort. »Nachdem mein Vater gestorben war, beschloss ich, das Herrenhaus für eine Weile dichtzumachen und ganz in London zu leben. Das meiste besorgte das Personal, nur um sein Arbeitszimmer kümmerte ich mich selbst und sichtete all seine Papiere und Abhandlungen. Eigentlich hatte ich vor, sie zu archivieren und einer akademischen Vereinigung zu vermachen, den Bathgate Scholars, denen mein Vater angehörte. Die würden wenigstens wissen, was damit anzufangen sei, dachte ich. Ich war gerade dabei, das alles in einen Koffer zu packen, als mein Blick auf ein Blatt in meiner Hand fiel und ich die Handschrift meines Vaters erkannte– perfekt und präzise wie immer und gleichzeitig irgendwie hastig hingeworfen, als hätte er seine Gedanken nicht schnell genug zu Papier bringen können.
Ich fing an zu lesen, und es war, als könnte ich seine Stimme hören. Da erst begriff ich, dass er nie wieder durch diese Tür treten und nie wieder an seinem Schreibtisch sitzen würde. In der Hand die erkaltete Pfeife, weil er so sehr in Gedanken versunken war, dass er alles um sich herum vergaß. Den Tabak nachzufüllen ebenso wie sein Abendessen, das unberührt stehen blieb. Manchmal ging er nicht einmal ins Bett. Mir wurde klar, dass er mich nie wieder ansehen würde, wie er mich angesehen hatte– mit dieser Mischung aus Enttäuschung und Verwunderung. Und doch hielt ich etwas von ihm in meiner Hand. Er mochte tot sein, aber auf diesen Blättern lebte er fort. Ich blieb fast einen Monat lang in seinem Studierzimmer und las jedes einzelne Wort, das er je geschrieben hatte.«
Selbst jetzt noch schüttelte er verwundert den Kopf. »Mein Vater war ein sehr interessanter Mann. Was für eine Schande, dass ich es erst erkannte, als es zu spät war.«
»Was stand auf den Blättern?« Ihre Stimme kam flüsternd, während ihr warmer Körper sich tröstend an seinen schmiegte.
»Zuerst las ich einfach nur, dann fing ich an zu sortieren, verteilte die Blätter im ganzen Raum, schichtete sie zu Stapeln auf: Protokolle, Abhandlungen, Konzepte, verworfene Theorien. Als ich keinen Platz mehr fand, schaffte ich alles in den Ballsaal und untersagte dem Personal strikt, mich zu stören. Ich sortierte und las und sortierte neu, und irgendwann begann ich die Denkweise meines Vaters zu begreifen und nachzuvollziehen, worum es bei diesen ganzen Informationen ging.«
Er stützte das Gesicht in die Hände und atmete schwer. »Und dann habe ich gesehen, wo der Denkfehler seiner Theorie lag. Kein grober Fehler. Er hatte einfach ein wenig in die falsche Richtung gedacht, sich vermutlich verrannt. Ich hingegen war unvoreingenommen und erkannte es. Wahrscheinlich hätte er es irgendwann selbst bemerkt, wenn er nicht gestorben wäre.«
Er atmete tief aus. »Also habe ich es zu Ende gebracht. Es war nicht schwer, denn mein Vater hatte im Grunde bereits die ganze Arbeit getan. Unter seinem Namen, meinen setzte ich nur zur Erklärung hinzu, schickte ich das Manuskript zur Begutachtung an die Bathgate Scholars. Und die überschlugen sich sogleich, um es zu veröffentlichen. Als Nächstes gratulierte mir der Prinzregent, indem er ein Glückwunschtelegramm schickte, und plötzlich war ich Sir Colin Lambert, in den Adelsstand erhobener Gelehrter.« Seine Stimme erstarb. »Was für ein riesiges Stück Scheiße!«
Sie lehnte den Kopf zurück und zwang ihn, ihrem Blick zu begegnen. »Du willst kein Gelehrter sein«, stellte sie lapidar fest.
Er wich erschrocken zurück. »Das ist keine Frage des Wollens. Es ist einfach so. Nicht nur dass mein Vater es immer von mir erwartet hat, jetzt wartet die ganze akademische Welt auf etwas Neues, auf eine brillante Arbeit, die die vorherige noch übertrifft.«
»Du erwartest es von dir selbst.« Sie schüttelte den Kopf. »Du bist klug und hast seinen
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