Ein sinnlicher Schuft
ihren knurrenden Magen zu denken. Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Zeit vor Chantal und dem Theater, an die Jahre, als es noch keine harte Arbeit und keine Sorgen um das tägliche Brot gegeben hatte. Sie schloss die Augen und sah sich wieder im Einspänner ihres Vaters sitzen, mit ihrer Mutter neben sich und Evan auf ihrem Schoß. Sonntägliche Spazierfahrten durch den Park, Museumsbesuche, Einkaufen in der High Street.
Sie hatte ein gutes Leben bis zu dem Tag, der alles änderte. Als sie die fünf schrecklichen Worte hören musste. »Eure Eltern sind nicht mehr.«
Viertes Kapitel
I n einer einzigen Sekunde veränderte sich alles. Pru und Evan wurden zum Haus ihres neuen Vormunds gebracht. Mr Trotter war der Geschäftspartner des Vaters und engster Freund gewesen.
Prudence hatte zwar in der Vergangenheit nicht viel Zeit mit ihnen verbracht, kannte die Familie aber seit ihrer Kinderzeit. Als sie in der ersten Nacht weinend aufgewacht war, hatte Evan neben ihr im Bett gelegen. Sie nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm nach unten, um sich von den Pflegeeltern trösten zu lassen.
Sie saßen in ihrem Salon– Mrs Trotter strickend und Mr Potter seine Pfeife rauchend–, und Prudence blieb einen Moment hinter der Tür stehen, als Mrs Trotter von ihrem Strickzeug aufblickte und über ihren Brillenrand ihren Ehemann anschaute. »Warum können wir das Geld nicht gleich bekommen?« Ihr Ton klang gereizt, ganz anders als sonst.
Mr Trotter blies lässig einen Rauchring. »Erst wenn er achtzehn ist, meine Liebe.«
»Aber dann behält er es! Nie im Leben wird er es uns einfach so geben.«
Mr Trotter grunzte und lächelte. Es war kein nettes Lächeln. »Das wird er, wenn ich mit ihm durch bin. Er wird so viel Angst haben, dass er nichts anderes tun wird. In zehn Jahren wird er ganz und gar mein Geschöpf sein.«
Mrs Trotter schniefte. »Prudence wird etwas dagegen haben, wenn du ihn misshandelst.«
»Prudence wird sich in irgendeinem Internat wiederfinden, wenn sie es wagt, mir in die Quere zu kommen. Dort oder in einer Irrenanstalt. Diese Einrichtungen sind voll von undankbaren Mädchen, die zu weit gegangen sind.«
Mrs Trotter kniff die Augen zusammen. »Schick sie sofort weg«, forderte sie ihren Mann auf.
»Warum?«
»Weil ich gesehen habe, wie du sie anschaust.«
Er wandte den Blick ab und sog an seiner Pfeife. »Unsinn.«
»Mach’s! Jetzt gleich! Morgen!« Ihre Fingerknöchel waren weiß, und ihre Hände mit dem Strickzeug zitterten vor Wut. »Du tust, was ich dir sage! Vergiss ja nicht, dass du deinen Brandy und deinen Tabak von meinem Geld kaufst!«
Er nahm noch einen langen Zug aus der Pfeife, bevor er seine Zeitung aufschlug. »Also gut, meine Liebe. Morgen ist sie aus dem Haus. Eine Anstalt, oder was meinst du? Aus einem Internat könnte sie vielleicht entkommen.«
Mrs Trotter lächelte, und ihre Stricknadeln klapperten wieder rhythmisch. »Das passt gut.«
Die Szene wirkte, von den hässlichen Worten abgesehen, so friedlich, so häuslich, dass Prudence dort draußen im dunklen Flur kaum glauben konnte, was sie da gehört hatte. Die Trotters waren nicht nur gierig, sondern zudem abgrundtief böse.
Und ihre Eltern hatten ihnen ahnungslos vertraut. Jetzt würde Evan mit Schlägen gefügig gemacht und sie selbst in eine Anstalt gesteckt werden! Zum ersten Mal in ihren fünfzehn Lebensjahren spürte Prudence, was Zorn war.
Neben ihr wich der achtjährige Evan zurück und zog sie mit in die Dunkelheit. »Ich habe Angst, Pru«, flüsterte er.
Ja, Zorn… und Furcht. Rasch huschte Prudence mit Evan zurück auf ihr Zimmer, kleidete sich und ihn an, und es gelang ihr, mit ihm zusammen durch die Hintertür zu entwischen, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Sie brauchten Stunden, um das Haus der einzigen anderen Person zu erreichen, der Prudence vertraute. Mr Henry, der Anwalt ihres Vaters.
Der hörte sich bedächtig ihre Geschichte an, verlangte dann nach seiner Kutsche, und in der Gewissheit, dass nun der Arm des Gesetzes die bösen Trotters bestrafen würde, begleiteten Prudence und Evan ihn zurück zu deren Haus. Doch der Anwalt übergab sie lediglich aufs Neue dem Vormund.
»Aber wieso? Ich habe Ihnen doch alles erzählt! Sie wollen Evan misshandeln, um an sein Geld zu kommen.« Sie blickte sich um, schaute in die Gesichter der Erwachsenen, die sie mit fürsorglichen Gesichtern umstanden.
»Der Tod ihrer Eltern scheint sie völlig aus der Bahn geworfen zu haben«, stellte Mr Henry traurig
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