Ein sinnlicher Schuft
fest.
»Solche Wahnvorstellungen.« Mrs Trotter gab ein besorgtes Murmeln von sich.
»Ich mache mir Sorgen wegen ihres Einflusses auf den Jungen«, stellte Mr Trotter fest.
Prudence wich zurück, umklammerte fest Evans Hand. »Nein!«
»Und wenn ihre Wahnvorstellungen Auswirkungen auf ihn haben?« Mrs Trotter war voll mütterlicher Sorge.
Mr Henry seufzte. »Vielleicht sollte man sie von ihm trennen.«
Mrs Trotter kniff die Augen zusammen, um das triumphierende Aufleuchten zu verbergen. »Tja…«, sagte die Frau bedächtig, »wenn Sie meinen, dass es das Beste wäre…«
Prudence hielt Evans Hand fest, und sie rannten los. So schnell, wie seine kurzen Kinderbeine ihn tragen konnten. Die Erwachsenen folgten ihnen, doch die Trotters waren nicht gerade schlank, und überdies kamen sie sich in die Quere. Prudence besaß noch genug Geistesgegenwart, eine silberne Vase und ein Kästchen aus Perlmutt vom Tischchen im Flur einzustecken, bevor sie zur Eingangstür hinausstürmten und sich in den Strom der Passanten mischten.
Der Verkauf der Wertsachen verschaffte ihnen etwas Zeit, doch irgendwann erkannte Pru, dass niemand eine gebildete junge Dame anstellen würde, weshalb sie beschloss, sich als einfaches Mädchen auszugeben, das lediglich über Kenntnisse im Lesen und Schreiben verfügte.
Manchmal hatte Pru das Gefühl, immer noch auf der Flucht zu sein. Sie flohen vor Verrat und vor Hunger und vor dem Tag, an dem sie es nicht mehr schaffen würde, sie über Wasser zu halten, und gezwungen wäre, Evan zurückzubringen, damit er überlebte.
Die Kutsche ruckelte weiter durch die Landschaft, während ihre Erinnerungen an die Vergangenheit sich in ihrem Kopf überschlugen und sich mit ihrer Furcht vor der Zukunft vermischten. Noch ein Fehler, und sie würden nicht überleben. Noch ein Fehler, und sie würde Evan für immer verlieren.
Während der Wagen sich immer weiter von Brighton entfernte, beschlich Colin das Gefühl, einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben.
Zum einen war der Einspänner eigentlich nur für zwei Erwachsene gedacht und für ein unruhiges Kleinkind schon gar nicht. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Pru zusätzlich auf Melody aufpasste. Und was den Jungen betraf– das schien ein ungeselliger, missmutiger Zeitgenosse zu sein. An dem seine kleine Tyrannin allerdings einen Narren gefressen hatte, denn ständig versuchte sie, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Evan, Evan, Evan, guck mal!«
Und dann diese merkwürdige Miss Filby, bei der so vieles nicht zusammenpasste wie etwa die leicht vulgäre Ausdrucksweise einerseits und die anmutigen Bewegungen andererseits. Colin begann sich mit dem Rätsel zu befassen, das dieses eher unscheinbare Mädchen für ihn darstellte. Er würde sie nach dieser Reise nie wiedersehen, und doch wurde seine Aufmerksamkeit immer wieder von einer leichten Geste, einem sinnlich gehauchten Wort oder einem heiser-resignierten Seufzen gefesselt.
Auch der Theaterdirektor schien viel von ihrem Charakter zu halten, mehr jedenfalls als von Chantals. Für ihn völlig unverständlich, denn er hatte seine Geliebte als die gütigste Person, die man sich denken konnte, in Erinnerung. Aber vielleicht war der Mann bloß verärgert, weil sie ihn zu Beginn der Saison im Stich gelassen hatte.
Colin dachte zurück an seine eigene Enttäuschung, als sie ihn damals wegschickte. Chantal zu verlieren war eine der größten Bewährungsproben seines Lebens gewesen, und es war schon merkwürdig, dass er jetzt durch die nicht unbeträchtliche Erbschaft nach dem Tod des Vaters vielleicht in der Lage sein würde, sie zurückzugewinnen.
Sie kannte ihn nur als einen Niemand, als Sohn eines wohlhabenden Gelehrten, der ihn jedoch gerade mit dem Notwendigsten versorgte. Wenn Chantal ihn jetzt traf, würde sie einen anderen Mann vor sich sehen. Sir Colin Lambert, in den Adelsstand erhoben und Eigentümer eines großen Landsitzes mit einer Menge Personal. Ein reicher Mann also. Ungeduldig ließ er die Leinen klatschen und freute sich auf den Augenblick, Chantal gegenüberzutreten und ihr etwas bieten zu können.
Melody plapperte währenddessen vor sich hin und erzählte Gordy Anne, die sie wie einen Säugling in den Armen hielt, eine Piratengeschichte, während der Junge sich krampfhaft bemühte, gelangweilt auszusehen, obwohl er ganz eindeutig interessiert zuhörte.
Colin warf seiner Sitznachbarin, die das Mädchen liebevoll, aber fest auf dem Schoß hielt und schweigend die
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