Ein sinnlicher Schuft
Wilberforces Eintreten schaute er auf und seufzte. »Was meinen Sie, Sir, kommen sie bald zurück?«
Da Wilberforce diese Frage bereits von der Köchin, dem Küchenjungen und diversen Bewohnern des Clubs gehört hatte, zuckte er nur leicht gereizt die Schultern, woraufhin Bailiwick seinen fast leeren Teller anstarrte, auf dem noch ein Stückchen Brot und ein kleiner Berg Erbsen lagen, um mit Grabesstimme zu verkünden: »Sehen Sie, ich hab den Appetit verloren, Sir.«
Wilberforce musterte die neunzehnjährige Essmaschine mit spöttischer Miene. »Bitte sagen Sie, dass das nicht wahr ist«, murmelte er.
Dennoch war unbestreitbar, dass ihnen etwas fehlte. Seit Lord und Lady Blankenship in die Flitterwochen aufgebrochen waren und Sir Colin die kleine Melody zu einem Strandurlaub nach Brighton mitgenommen hatte, schienen die Stunden und Tage im Brown’s noch langsamer zu vergehen als sonst und erschienen freudlos, ohne Licht und ohne Wärme.
Nach dem Trubel der vorangegangenen Wochen musste selbst Wilberforce zugeben, dass die Rückkehr zur verschlafenen Routine vergangener Tage auch bei ihm eine nervöse und gereizte Stimmung erzeugte. Doch solchen Launen durfte er sich nicht hingeben. Seine Aufgabe bestand darin, den ihm Anbefohlenen den bestmöglichen Service zu bieten, selbst wenn das bedeutete, den ganzen lieben langen Tag dieselbe nörgelige Frage zu beantworten.
»Wann kommen sie zurück?«
Es war eine Herausforderung, alles in dem Einspänner unterzubringen, aber Colin schaffte es, und schon bald lagen die geschäftigen Straßen von Brighton hinter ihnen, und sie befanden sich in nordwestlicher Richtung auf dem Weg nach Basingstoke.
»Sir, sind Sie und die kleine Miss den ganzen Weg aus London in dem Ding hier gefahrn?«
»Ja.« Colin tätschelte liebevoll den Türschlag neben ihm. »Ist er nicht schön?«
Keine Antwort. Er schaute sie an. »Meinen Sie nicht auch?«
Miss Filby verzog den Mund. »Ich kenn mich damit ja nich wirklich aus, aber…«
»Was aber? Wenn Sie etwas dazu sagen möchten, dann raus mit der Sprache!«
Ihre grauen Augen blitzten. »Ist ein bisschen angeberisch für ’nen Mann mit Familie, meinen Sie nich? Und für Reisen mit Kindern nich wirklich geeignet.«
Er richtete sich auf. »Da bin ich anderer Meinung. Ich finde ihn genau passend und zweckmäßig obendrein.«
Sie reckte das Kinn. »Wenn Sie meinen, Chef. Gehört schließlich Ihnen.«
Bei Tageslicht sah er zum ersten Mal, dass dunkle Ringe unter ihren Augen lagen. Und für jemanden, der jahrelang an der Küste gelebt hatte, war sie sehr blass. »Und was ist mit Ihnen? Stammen Sie aus Brighton?«
Sie schaute auf die vorbeiziehenden Felder. »Ich und Evan, wir sind da geboren und warn nie woanders.«
»Aha.« Er dachte an all die Städte und Länder, die er schon bereist hatte. »Dann muss die Fahrt ja für Sie sehr aufregend sein.«
Sie schaute ihn an, die feinen rostbraunen Augenbrauen fragend in die Höhe gezogen.
Er grinste. »Aufregende Schafe? Aufregende Felder?«
Ihre Mundwinkel zuckten. »Ich bin außer mir«, sagte sie tonlos.
Er lachte laut los. Sie lächelte ihn aus ihren schönen grauen Augen an, und für einen Moment blitzten weiße Zähne auf und machten ihre Blässe und ihre Schlichtheit vergessen. Colin fühlte sich von ihr unverständlicherweise irgendwie gefangen genommen– nicht nur von ihrem Aussehen, sondern ebenso von ihrer Schlagfertigkeit und der Selbstverständlichkeit, wie sie da neben ihm saß und Melody auf dem Schoß hielt, als könnte es gar nicht anders sein.
Als der Wagen mit einem Rad durch ein tiefes Schlagloch rumpelte, wurde sie kurz gegen ihn geschleudert. Er streckte rasch eine Hand aus, um sie und Melody auf dem Sitz festzuhalten. »Achtung!«
Er hatte wahllos irgendwohin gegriffen, und was er jetzt umfasste, das war ihr Busen. Sie gab einen erschreckten Laut von sich und wich zurück, was die Sache nur noch schlimmer machte, denn dabei glitt ihre Hand versehentlich in seinen Schoß– und fühlte, dass seine Lenden die Episode merklich genossen.
Sie fuhren auseinander und erstarrten.
»Entschuldigung!« Colin schluckte. O Gott, wie peinlich! Und wie erregend. Er meinte, die Fülle ihrer Brust noch in seiner Hand zu spüren. Was für eine herrliche Handvoll.
»Tschuldigung, Sir.« Pru war verstört, Melody hingegen kicherte.
»Gordy Anne will das noch mal machen.«
Da war Gordy Anne wohl nicht die Einzige. Himmel, was hatte sie da bloß in der Hand gehabt? Eine herrliche
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