Ein sinnlicher Schuft
lauschte.
»Zehnmal und mehr.« Evans Stimme wurde schläfriger.
»Zehnmal und mehr«, fuhr Mr Lambert fort. »Und deshalb kannte er diese mysteriöse und magische Insel der Bäume. Er wendete die Dishonor’s Plunder, und nach ein oder zwei kleineren Wirbelstürmen warfen sie in einer zauberhaften Bucht den Anker aus…«
Seine Stimme, die zunehmend leiser geworden war, verklang. Pru schlug die Augen auf und sah, wie Mr Lambert gerade die Decken enger um den Jungen zog. Als er aufschaute, lächelte er ihr zu.
»Er ist eine harte Nuss«, sagte er sanft. »Melody hält nie so lange durch.«
Sie erhob sich und deckte die Kleine ebenfalls fest zu, dann tappte sie barfuß zu ihrem Bruder, um in sein Gesicht zu sehen. Alle Spuren des flegelhaften, misstrauischen Straßenjungen waren fort, und zurück blieb bloß ein müder kleiner Kerl. »Er hat seit Jahren keine Gutenachtgeschichte mehr vor dem Einschlafen gehört. Nicht mehr viele, seit unser Vater tot ist.«
Colin trat ein paar Schritte zurück, als sie näher kam. »Sind Sie nicht müde?«
Sie lächelte schief. »Zu viele Enthauptungen für meinen Geschmack. Aber Ihre Geschichten sind wunderbar.«
»Wohl kaum. Zu viele Tote und ein zu geringer Wortschatz.«
»Trotzdem: Sie sind aufregend und gefallen den Leuten.«
Er tat es mit einem Achselzucken ab, obwohl er sich geschmeichelt fühlte. »Kaum das, was die Gemeinschaft der Gelehrten von mir zu hören erwartet.«
»Gelehrte mögen ihren Platz haben«, sagte sie. »Doch was ist so wertvoll daran, Abhandlungen zu verfassen, die nur wenige Menschen verstehen? Ist es nicht mindestens genauso bemerkenswert, wenn man vielen eine Freude macht?«
Er schaute sie verwundert an. »So habe ich das noch nie betrachtet.« Nachdenklich zog er die Augenbrauen zusammen. »Mein Vater hat mit Sicherheit geglaubt, dass es nichts Wichtigeres gäbe, als Bücher und Aufsätze zu schreiben, die nur wenige Leute verstehen. Je weniger, umso besser.«
Pru seufzte, während sie zu Evan hinüberschaute. »Eine Weile habe ich ihm manchmal eine Geschichte erzählt«, sagte sie und strich dem Jungen eine Strähne seiner zu langen Haare aus der Stirn. »Aber wegen der vielen Arbeit…« Sie zuckte die Achseln.
Eine warme Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. »Sie haben Ihr Bestes getan, und zumindest ich denke, dass Sie es wunderbar gemacht haben. Er ist ein guter Junge.«
Nein, wollte sie aufschreien. Vielleicht ein guter gewöhnlicher Junge, ein guter Botenjunge, ein guter Taschendieb, ein guter Organisator, wenn es darum geht, die Abfälle des Gemüsemanns zu durchwühlen– aber er ist nicht gut genug, um als Sohn eines Gentleman durchzugehen. Er ist nicht der, der er sein sollte.
Und ich bin es auch nicht.
Könnte sie nur wieder eine Dame sein! Dann würde sie ihn vergessen machen, dass es eine Chantal gab. Der Gedanke raubte ihr den Atem. Sollte sie es wagen, sich ihm zu offenbaren?
Ich könnte es versuchen.
Doch nach Jahren der Geheimhaltung hatte sie Angst davor, ihre wirkliche Identität preiszugeben. Überdies ging es nicht um sie. Wenn die Trotters durch einen dummen Zufall erfuhren, wo Evan sich aufhielt– nein, daran durfte sie gar nicht denken.
Ich könnte es dennoch versuchen. Um mir seiner sicher zu sein, ganz, ganz sicher …
Einundzwanzigstes Kapitel
S ie erstarrte, als Colin sie berührte. Er wurde sich bewusst, dass sie im Prinzip in dieser stillen Nacht allein waren. Das letzte Mal hatte er sie bis an die Grenze des Erlaubten überrumpelt.
Mit größter Willensanstrengung nahm er die Hand von ihrer Schulter und trat einen Schritt zurück.
Sieh mich an. Ich wirke so anständig und ehrbar. Bloß bin ich das in meiner Fantasie überhaupt nicht.
In seiner Vorstellung war ihr einfaches Nachthemd aus feinstem Gewebe und schmiegte sich an ihren Körper, und der Schein des Feuers offenbarte ihm jede ihrer verlockenden Kurven. In der Privatheit seiner Gedanken war Miss Prudence Filby nicht vor Entsetzen starr, sondern brannte vor Lust und presste sich leidenschaftlich an ihn. Und sie waren nicht Herr und Magd, sondern Mann und Frau, gleichgestellt und voller Begehren, zwei Menschen ohne Verpflichtungen oder Bindungen.
Oder Kleidung.
Sie hob den Kopf und schaute ihn an. Ihre grauen Augen wirkten im Schein des Feuers fast silbern, und er glaubte etwas Neues in ihnen leuchten zu sehen. War das Verlangen?
Falls ja, dann durfte er dem nicht nachgeben. So ein Mann war er nicht und wollte er auch nicht sein, der
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