Ein sinnlicher Schuft
beängstigenden Enthüllungen über Seth wagte sie nicht, sich schlafen zu legen. Lieber blieb sie wach und trank mit Olive in der Küche eine Tasse Tee nach der anderen. Hin und wieder sprang sie auf, um nach den Kindern in der Kammer im oberen Stockwerk zu sehen.
Leise sperrte sie die Tür auf– den Schlüssel verwahrte sie stets in ihrer Tasche–, schob sie gerade weit genug auf, dass sie ihre Kerze durch den Spalt stecken und den Raum ein wenig erhellen konnte. Zu ihrer Erleichterung schliefen wenigstens die Kinder friedlich, Seite an Seite nebeneinander im Bett, und Pru war sich ziemlich sicher, dass es allein Evans Gegenwart zu danken war, dass Melody aufgehört hatte zu weinen. Allerdings wies das Gesicht des kleinen Mädchens noch immer die Spuren der vergossenen Tränen auf.
Genauso leise, wie sie gekommen war, schloss Pru die Tür, verriegelte sie sorgfältig und ließ den Schlüssel wieder in ihre Rocktasche gleiten. Am oberen Treppenabsatz angekommen blies sie aus anerzogener Sparsamkeit ihre Kerze aus und stieg in den erleuchteten Schankraum hinunter.
»Ich weiß, dass das Verschwendung is, wo wir doch ganz allein sind, aber ich kann heut Nacht einfach nich im Dunkeln sitzen«, erlärte Olive.
Pru seufzte. Sie hatte gewusst, dass Colins Versprechen, bei Einbruch der Nacht zurück zu sein, voreilig gewesen war. Trotzdem konnte sie nicht anders, als sich Sorgen zu machen. Überhaupt war das zu ihrer zweiten Natur geworden und hatte ihr und Evan mehr als einmal das Leben gerettet. Auf ihren Instinkt zu hören und Angst nicht zu ignorieren war eine Art Überlebensstrategie für sie. Deshalb wich sie auch erschrocken auf die Treppe zurück, als gebieterisch gegen die Tür geschlagen wurde, lauschte angespannt in der Dunkelheit, wie Olive durch den Schankraum hastete, um zu öffnen.
Tu’s nicht! Mach nicht auf!
Am liebsten hätte sie die Warnung laut gerufen, doch das hier war ein Gasthaus, und die Wirtsleute lebten davon, dass sie Fremde hereinließen. Aber dann hörte sie erst einen ängstlichen Schrei, dem ein unterdrückter Schmerzenslaut folgte.
Colin.
Binnen Sekunden war sie an der Tür zu ihrer Kammer, öffnete sie mit dem Schlüssel und sperrte von innen gleich wieder ab, ließ sich neben dem Bett auf die Knie sinken. »Evan! Evan!«
Er protestierte mit einem unwilligen Grunzen.
»Wir müssen weg, Evan.«
Bei diesen Worten riss er die Augen auf und richtete sich auf. Sie schob ihm seine Stiefel hin und tastete sich um das Bett herum zur anderen Seite. »Melody? Melody, Schätzchen, wach auf. Pst, sei mucksmäuschenstill.«
Das Kind interessierte nur eines: »Ist Onkel Colin wieder da?«
Pru legte ihr den Finger auf den Mund. »Wir müssen ganz leise sein, Schatz! Komm, zieh dich schnell an.«
Es kam ihr wie Stunden vor, bis sie Melody in ihren Kleidern hatte und die Stiefel zugebunden waren. Evan sammelte eilig ihre Sachen zusammen und stopfte sie wahllos in alle möglichen Taschen und Koffer, was eben gerade greifbar war. »Wir können das nicht alles tragen«, meinte er.
Zornige, raue Stimmen drangen aus dem Schankraum zu ihnen herauf. Pru kämpfte gegen ihre Angst an und versuchte nachzudenken. »Dann versteck es. Wir kommen später zurück und holen alles.«
Wenn wir es können.
Evan schaute sich kurz in dem kleinen Raum um, kniete sich hin und schob die Koffer weit unter das Bett bis zu der Wand am Kopfende, während seine Schwester Melodys Mantel zuknöpfte. »Und jetzt machen wir schnell die Betten, damit es so aussieht, als hätte niemand das Zimmer benutzt.«
Sie erledigten das rasch und nicht allzu gründlich, was allerdings in einem Gasthaus wie diesem durchaus üblich war. Danach stellte sich Pru der Herausforderung, die sie am meisten schreckte, und öffnete das Fenster, schaute hinab.
»Ach du lieber Himmel!«
Evan streckte den Kopf neben ihr nach draußen. »Is nicht so schlimm. Bin schon schwierigere Sachen runtergeklettert.«
Doch Prus Sorgen ließen sich nicht zerstreuen. »Wie sollen wir das mit Mellie bloß machen?«
Evan schnalzte mit der Zunge. »Da is ’n kleiner Sims, und dann kommt das Fallrohr. Wir sind gar nich mal so hoch, weil das die Hangseite is.«
»Sie ist fast noch ein Baby!«
Evan dachte da ganz anders. »Ja, aber ein Affenbaby, so wie die klettert. Außerdem könnte sie auf deinem Rücken das Fallrohr runterrutschen. Das dauert weniger als ’ne Minute.«
Pru zögerte. »Ich kann nicht. Es wäre unrecht, Olive allein zu lassen.«
Evan
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