Ein skandaloeser Kuss
Hand nahm, die Darstellung einer Spinne mit pelzigen Beinen. „Während meiner letzten Reise erkrankte ich schwer, und ausgerechnet an Masern. Gottlob blieb mir mein Augenlicht erhalten.“
„Andernfalls hätte die Welt einen begabten Künstler und Naturforscher verloren.“
„Ich bin in der Lage, nach der Natur zu zeichnen, aber ein Künstler …?“ Er schüttelte den Kopf.
Sich seiner Nähe mit einem Mal überdeutlich bewusst, versuchte Nell ihre Aufmerksamkeit auf die Darstellungen der Insekten und Käfer zu richten. „Sie sind sehr wirklichkeitsgetreu.“
Sie war bei den letzten Blättern angelangt, als ihr Blick auf eine Kohlezeichnung fiel, die etwas ganz anderes abbildete – sie selbst, wie sie gedankenversunken aus dem Kutschenfenster blickte.
Es war eigentümlich, das eigene Antlitz mit so wenigen Strichen so genau wiedergegeben zu sehen. „Und ich glaubte, Sie würden die meiste Zeit schlafen“, murmelte sie kopfschüttelnd. „Wenn ich das nächste Mal mit einem Gentleman in der Kutsche sitze, der aussieht, als schliefe er, werde ich ihm wohl einen Tritt verpassen, um sicherzugehen.“
Um Lord Bromwells Mundwinkel zuckte ein reumütiges Lächeln. „Hätte ich voraussehen können, wie sehr ich Ihre Gesellschaft genieße, wäre ich wach geblieben.“ Der Kessel begann zu pfeifen, und der Viscount ging zum Kamin, um den Tee aufzugießen.
In dem Versuch, ihren trommelnden Herzschlag zu beruhigen, stieß Nell langsam den Atem aus. „Ich kann verstehen, dass Sie Ihre Zeit lieber hier verbringen, aber ist es nicht manchmal ein bisschen einsam, nur mit den Spinnen?“
„Billings und Brutus leisten mir oft Gesellschaft. Billings bringt ein Kaninchen mit, dann gibt es Eintopf, und wir machen uns einen zünftigen Abend.“ Lord Bromwell goss das kochende Wasser in die Kanne mit den Teeblättern. „Ich hatte Heimweh nach Granshire, als ich auf See war, mehr als ich je gedacht hätte. Sogar nach meinem Vater, aber dann gab es da einen Stammeshäuptling auf Tahiti, der mich sehr an ihn erinnerte. Obuamarea hieß er, und er hätte es gern gesehen, wenn ich eine seiner Töchter heirate. Das musste ich natürlich ablehnen.“
„War sie hübsch?“
„Sehr, wenn man sich an die Tätowierungen gewöhnt hatte.“
Die Tätowierung auf seinem Rücken fiel ihr ein, und wieder fragte sie sich, was sie darstellte.
Er reichte ihr eine dampfende Tasse. „Wahrscheinlich war es nicht besonders klug, mich selbst tätowieren zu lassen, aber ich wollte unbedingt wissen, wie die Prozedur abläuft. Ich wünschte nur, ich hätte das Erlebnis nicht in meinem Buch geschildert.“
Sie umfasste die heiße Tasse mit beiden Händen. „Ist es wahr, dass die Gentlemen bei White’s darauf gewettet haben?“
„Leider stimmt das, ja. Mein Freund Brix, der Ehrenwerte Brixton Smythe-Medway, kam auf die Idee. Es ist eine Art Retourkutsche für eine Wette, die ein paar Freunde und ich vor einiger Zeit auf etwas abgeschlossen hatten, das ihn betraf, und die ihm einigen Ärger verursachte.“ Der Viscount lächelte schief. „Aber wie ich Brix kenne, hätte er die Wette bei White’s so oder so platziert, nur um Unheil zu stiften.“
„Hört sich nicht nach jemand an, den ich als guten Freund bezeichnen würde.“
„Oh doch, er ist wirklich ein feiner Kerl.“ Eine angeschlagene Tasse in der Hand, lehnte Lord Bromwell sich gegen das Büfett. „Er hat bloß einen etwas gewöhnungsbedürftigen Sinn für Humor. Wir sind seit unserer Schulzeit befreundet, und er war der erste Mitschüler, der Kontakt zu mir suchte. Durch ihn lernte ich Edmond, Charlie und Drury kennen, die seitdem ebenfalls meine Freunde sind, obwohl auch sie sich schwertun, mein Interesse an Spinnen zu verstehen.“
Er hob die Schultern. „Aber ich hätte kein Anwalt werden können wie Drury. Oder Gedichte und Romane schreiben wie Edmond. Brix unterstützt seinen Vater bei der Erneuerung des Familienanwesens, und Charlie ist bei der Marine. Mit ihm habe ich noch am meisten gemeinsam.“ Wieder lächelte er schief. „Aber da rede ich die ganze Zeit nur von mir! Was sind Ihre Interessen, Lady Eleanor?“
„Ich … ich habe keine“, gestand sie und fühlte sich entsetzlich dumm und langweilig.
„Sicher gibt es irgendetwas, das Ihnen Spaß macht.“ Er lächelte beruhigend. „Keine Angst, ich bin unvoreingenommen.“
Daran hegte sie keinen Zweifel. Selbst wenn sie etwas Skandalöses eingestehen würde, den Traum von einer Bühnenkarriere zum
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