Ein skandaloeser Kuss
deutete mit dem Kinn zu der Tür, durch die der Viscount den Raum verlassen hatte.
„Lord Bromwell, der berühmte Naturforscher“, antwortete Mrs Jenkins stolz.
„Der, der den Kannibalen in die Hände fiel?“
„Genau der.“ Die Wirtsfrau nickte. „Er schaut immer mal bei uns rein, wenn er zwischen der Hauptstadt und dem Familienanwesen hin und her reist.“
„Aber nicht immer allein, richtig?“ Der Fremde grinste wissend.
„Der Viscount ist ein Gentleman .“ Mrs Jenkins plusterte sich auf wie eine angriffslustige Glucke. „Die junge Dame, von der ich sprach, saß mit ihm in derselben Kutsche, und das ist alles.“
„Sie meinen die Expresskutsche, die umstürzte? In dem Gasthof, in dem ich gestern abgestiegen bin, war von nichts anderem die Rede. Aber glücklicherweise scheint ja niemand ernstlich verletzt zu sein. War die junge Frau eine Bekannte des Viscounts?“
Eine senkrechte Falte erschien auf Mrs Jenkins’ Stirn. „Sie ist eine nette, zurückhaltende junge Dame, sonst gar nichts.“ Das Kinn gereckt, verschwand die Wirtsfrau Richtung Küche.
„Nichts für ungut“, murmelte der Fremde spöttisch und stand auf. Er trat ans Fenster und blickte dem berühmten Lord Bromwell nach.
10. KAPITEL
Was könnte ich ihm raten? Dass er sie aufgeben und gehen lassen soll? Dass er versuchen soll, ihr Herz zu erobern, wenn er sie liebt? Auch wenn das bedeutet, dass er auf seine Expedition verzichten muss?
Was, wenn er auf mich hört und seine Entscheidung sich am Ende als falsch herausstellt? Da ich es selbst fast geschafft hätte, mein Glück zu verspielen, möchte ich nicht verantwortlich sein, wenn er seines verwirkt.
– aus dem Tagebuch von Sir Douglas Drury
D rury!“
Sir Douglas Drury – im schwarzen Talar und mit weißer Perücke wie stets, wenn er als Verteidiger am Strafgerichtshof des Königreichs tätig war – blieb verdutzt auf dem Gehsteig stehen und wandte den Kopf in die Richtung, aus der jemand seinen Namen gerufen hatte. Als er Bromwell entdeckte, der ihm aus einer Mietdroschke zuwinkte, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, und er überquerte, die verkrüppelten Hände auf dem Rücken verschränkt, eilig die belebte Straße.
„Ich muss doch sehr bitten! Mich auf solch dreiste Art anzupöbeln“, sagte er mit gespielter Strenge, als Bromwell den Schlag aufstieß, damit er einsteigen konnte. „Ich bin schließlich kein Hausierer.“
„Ich bitte demütigst um Verzeihung“, erwiderte Bromwell mit einer Zerknirschung, die nicht weniger unecht war. „Aber mit bloßem Winken hätte ich deine Aufmerksamkeit nicht erregen können, fürchte ich. Du warst mit den Gedanken bei einem Fall, nicht wahr?“
„Ehrlich gesagt, nein“, stellte Drury richtig. „Juliette fühlt sich ein wenig unpässlich in letzter Zeit.“
„Es ist doch nichts Ernstes?“ Für den Augenblick trat sein eigenes Problem hinter der Sorge um die Frau seines Freundes zurück.
„Nein, ich glaube nicht“, erwiderte Drury in einem Ton, der Bromwell beruhigte. „Was führt dich in die Stadt, Buggy? Geschäfte, Vergnügen oder die Spinnen?“
„Die Spinnen hauptsächlich. Ich soll einen Vortrag bei der Linné-Gesellschaft halten. Über die Brasilianische Wanderspinne.“ Bromwell zögerte. „Und dann gibt es da ein rechtliches Problem, wegen dem ich dich gern um Rat fragen würde.“
Drury musterte seinen Freund verwundert. „Sag mir nicht, du hast ein Verbrechen begangen.“
„Es geht nicht um einen Strafrechtsfall.“
„Dem Himmel sei Dank. Aber wenn es sich um etwas Zivilrechtliches handelt, solltest du einen Anwalt aufsuchen, der darauf spezialisiert ist. Jamie St. Claire zum Beispiel. Er würde dir sicher gern helfen.“ Drury lehnte sich in die Polster zurück und klopfte gegen das Dach, um dem Kutscher zu signalisieren, dass er losfahren konnte.
„Wenn du meinst“, sagte Bromwell zweifelnd. „Aber mir ist wichtig, dass die Angelegenheit so vertraulich wie möglich behandelt wird.“
Überraschung flammte in Drurys Augen auf, die er jedoch rasch und wirkungsvoll verbarg. „Wenn du mich einweihst, kann ich Jamie die Fakten vorlegen, ohne deinen oder irgendeinen anderen Namen zu nennen.“
„Das wäre mir am liebsten.“ Bromwell nickte zustimmend. Lady Eleanor sicher auch, dachte er und überlegte einen Moment, wie er anfangen sollte.
„In der Kutsche nach Bath saß eine Frau“, begann er schließlich. „Und dann brach die Achse, und die Chaise stürzte um –
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