Ein skandaloeser Kuss
möchten?“, setzte Lady Granshire fragend hinzu.
Nein, die hatte sie nicht, und wenn sie hier bliebe, würde sie alle Neuigkeiten über Lord Bromwell so schnell erfahren wie seine Mutter.
Aber was würde Lord Granshire davon halten? „Der Earl hätte sicherlich Einwände gegen meine Anwesenheit, wenn er erfährt, wer ich in Wirklichkeit bin.“
Die Augen der Countess blitzten. Entschlossen erwiderte sie: „Dann werden wir es ihm nicht sagen, solange keine Notwendigkeit dazu besteht, und ich zahle Ihnen den Lohn, der der Gesellschafterin einer Dame angemessen ist, aus meiner eigenen Schatulle.“
Lady Granshire sank auf die Knie und streckte ihre Hände aus. „Bitte vergeben Sie mir, was ich sagte. Und bitte nehmen Sie mein Angebot an und bleiben Sie. Wir können uns gegenseitig trösten, denn Sie lieben ihn genau wie ich.“
Tränen schossen Nell in die Augen. Sie erhob sich und half der Countess auf die Füße. „Ich danke Ihnen für die Einladung, und so gern ich bleiben möchte – ich glaube, ich sollte keine weiteren Pläne machen oder Versprechen abgeben, ehe Ihr Sohn aus London zurück ist.“
Und dann …?
Darüber würde sie erst nachdenken, wenn es nicht mehr anders ging.
„Lord Bromwell wünscht Sie zu sprechen, Sir Douglas.“ Edgar Minor trat zur Seite und hielt dem Viscount die Tür zum Arbeitszimmer seines Dienstherrn auf.
Sobald er in London eingetroffen war, hatte Bromwell sich auf den Weg zu Drury gemacht, ohne die Stadtresidenz der Familie aufzusuchen und sich umzuziehen. Man sah es ihm an.
„Du meine Güte, was ist passiert? Ist jemand gestorben?“, fragte Drury erschrocken und erhob sich hinter dem riesigen Eichenschreibtisch.
Anders als das seines Vaters in Granshire Hall war Drurys Arbeitszimmer tatsächlich zum Arbeiten gedacht, nicht dazu, Eindruck zu machen, und das spiegelte die Einrichtung wider. Der Sessel hinter dem massiven Schreibtisch wirkte ausgesprochen komfortabel, ebenso die drei Ohrensessel für seine Besucher und Klienten, die davorstanden. Regale mit juristischen Werken bedeckten die Wände, der Aktenschrank war in Reichweite des Schreibtischs aufgestellt, und zwei blank polierte Studierlampen sowie ein silbernes Tintenfass samt Streusandbüchse und Federkielen zierten den Schreibtisch, obwohl Drury Letztere kaum benutzte. Inzwischen konnte er das Schreibwerkzeug zwar wieder recht gut handhaben, zog es jedoch vor, seine Kreuzverhöre im Kopf vorzubereiten.
„Nein.“ Bromwell reichte dem wartenden Butler seinen Hut und schloss die Tür, sodass Drury und er unter sich waren. „Wo ist Juliette?“
„Stoffe kaufen mit Fanny“, erwiderte Drury ruhig, doch in seinen Augen stand Sorge. „Gibt es Probleme mit Lady Eleanor? Sind ihre Eltern aus Italien zurückgekommen?“
Als alter Freund Drurys wartete Bromwell nicht auf die Aufforderung, Platz zu nehmen, sondern warf sich in den nächststehenden Sessel. „Nein, weil sie gar nicht Lady Eleanor ist.“
Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, war Drury eine innere Reaktion offen und unmaskiert anzusehen. Betroffenheit malte sich auf seinen Zügen, als er sich setzte. „Nicht Lady Eleanor? Wer zum Teufel ist sie dann?“
„Sie heißt Nell Springley und bedient sich der falschen Identität, um nicht eines Diebstahls bezichtigt zu werden, den sie nicht begangen hat.“
Drury hatte seine Fassung wiedergewonnen, auch wenn er die Zähne zusammenbiss, wie man an seiner Kieferpartie erkennen konnte. „Ich harre der Einzelheiten.“
Auf einmal war Bromwell unsicher, wie und wo er anfangen und vor allem, wie viel er erzählen sollte. Er sprang auf, lief zum Fenster und wieder zurück.
„Wir reden nicht von Mord, oder?“
„Um Himmels willen, nein!“, erwiderte er entsetzt. „Sie ist das Opfer eines Verbrechens.“ Er ließ sich wieder in den Sessel fallen und atmete tief durch. Dann berichtete er Drury alles über Nell Springley, bis hin zu seiner Entscheidung, ihre angebliche Identität einstweilen aufrechtzuerhalten.
Bromwell wusste, dass sein Freund ihn verstehen würde. Vor nicht allzu langer Zeit hatten Drury und Juliette nicht nur vorgeben müssen, Cousin und Cousine zu sein, damit sie beide in der Stadtresidenz des Earls wohnen konnten, sondern zudem, dass Juliettes Zofe mit ihrem Gepäck verschwunden war. Im Crown and Lion hatte Bromwell sich daran erinnert und seinem Vater die gleiche Erklärung für die fehlende Garderobe der angeblichen Lady Eleanor aufgetischt.
Er beschloss jedoch, die
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