Ein skandaloeser Kuss
schon.“
13. KAPITEL
Wie es Spinnen gelingt, sich nicht in ihrem eigenen Netz zu verfangen, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch eines der großen Geheimnisse der Natur. Liegt es an den Besonderheiten ihres Körperbaus oder an der Beschaffenheit der Fäden? Doch das ist nur eines der vielen ungelösten Rätsel, derentwegen ich diese faszinierenden Geschöpfe stundenlang beobachten kann.
– aus Das Spinnennetz von Lord Bromwell
I ch weiß um die Macht bestimmter Gefühle und dass sie einen Menschen dazu veranlassen können, Entscheidungen zu fällen, die er sonst niemals in Betracht ziehen würde.“ Lady Granshire sah Nell beschwörend an. „Und ich glaube, Sie könnten eine solche Macht über meinen Sohn ausüben. Sie könnten das erreichen, was mein Gatte und ich nicht erreicht haben. Sie könnten meinen Sohn dazu bringen, in England zu bleiben. In Sicherheit.“
Nell schüttelte entschieden den Kopf. „Nein. Das könnte ich nicht. Weil ich es nicht will. Bitte, verlangen Sie nicht so etwas von mir!“
„Denken Sie daran, welchen Gefahren er ausgesetzt sein wird, wenn er die Expedition antritt“, flehte die Countess. „Nach all der Güte, die wir Ihnen angedeihen ließen – die er Ihnen angedeihen ließ –, wollen Sie es ihm so vergelten? Indem Sie nicht alles in Ihrer Macht Stehende tun, um ihn hierzuhalten?“
„Selbst wenn mir so viel Einfluss über ihn zu Gebote stünde, wie Sie glauben, könnte ich mich nicht dazu überwinden, ihn von seinem Lebenswerk abzubringen.“
„Sie würden zulassen, dass er sein Leben aufs Spiel setzt, indem er in der Welt herumreist und Spinnen jagt?“
Bei dem Gedanken, dass er fortgehen würde, dass er vielleicht sterben könnte, brach Nell schier das Herz. Aber sie hatte kein Recht, ihn wegen ihrer Ängste von seinen Bestrebungen abzuhalten. „Ja. Weil es sein Herzenswunsch ist.“
Das Gesicht der Countess rötete sich, und ihre Fingerknöchel traten weiß hervor, als sie ihr feuchtes Taschentuch umklammerte. „Es gibt genügend Spinnen in England, die er erforschen könnte. Wenn Sie ihn dazu bewegen hier zu bleiben, werde ich dafür sorgen, dass es Ihnen für den Rest Ihres Lebens an nichts mangelt, egal was passiert.“
Wie weit würde Lady Granshire gehen, was wäre sie bereit zu geben, damit ihr Sohn in England blieb? „Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie keine Heirat vorschlagen.“
„Da Sie nicht von Stand sind, würde mein Gatte einer Heirat niemals zustimmen“, erwiderte die Countess finster, „gleichgültig, was Justinian oder ich dazu sagen. Außerdem hat Justinian zwar Erbanspruch auf Granshire Hall, aber nicht auf die Einkünfte. Der Earl könnte dafür sorgen, dass er ohne einen Penny dasteht, und wenn Justinian eine Frau heiratet, die sein Vater für unpassend hält, würde er das auch tun.“
„Selbst wenn – trauen Sie Ihrem Sohn nicht zu, dass er seinen Lebensunterhalt selbst verdienen kann?“
„Sie etwa?“, konterte die Countess. „Was glauben Sie, wie viel seine Leidenschaft für Spinnen ihm einbringt? Halten Sie sich lieber vor Augen, was er verliert, wenn er gegen den Willen seines Vaters heiratet.“
„Ist Ihnen klar, wozu ich mich machen würde, wenn ich Ihr Angebot annähme?“
Lady Granshire richtete sich gerade auf, wie um Nell daran zu erinnern, dass sie eine vermögende Aristokratin war. „Da Sie bereits in vielen Fällen bemerkenswert wirkungsvoll gelogen haben, konnte ich nicht ahnen, dass Ihre Bedenken derart ausgeprägt sind.“
Die Worte der Countess machten Nell betroffen. „Was immer Sie von mir halten mögen, Mylady, eine Hure bin ich nicht.“
Lady Granshire erhob sich so rasch vom Sofa, dass ihr schwarzes Seidenkleid knisterte und ihre Batisthaube verrutschte. „Haben Sie denn kein Mitleid?“, fragte sie mit bebender, anklagender Stimme. „Kein Verständnis für eine liebende Mutter? Anscheinend nicht, denn Sie saßen nicht nächtelang am Bett Ihres Kindes und beteten um sein Leben, weil Sie befürchten mussten, dass es am nächsten Morgen tot sein würde. Sie haben nicht auf jeden Atemzug Ihres Sohnes gelauscht und Ihren eigenen Atem seinem angeglichen, als könnten sie ihn damit unterstützen. Sie lagen niemals allein in der Dunkelheit, unfähig, Schlaf zu finden, und Sie fragten sich nicht, wo er wohl gerade sein mochte. Ob er noch lebte oder tot war. Oder krank an irgendeinem gottverlassenen Ort am anderen Ende der Welt lag und verzweifelt nach Ihnen rief.“
Nell atmete tief durch und sah
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