Ein Sommer mit Danica
neue Praxis einzurichten, dazu hatte er kein Geld. Die Möbel, die er schon gekauft hatte und die in der nächsten Woche geliefert würden, häuften eine Schuldenlast auf, die er nur abtragen konnte, wenn er sofort weiter arbeitete. Aber womit arbeiten? Mit den bloßen Händen? Mit seinem Ohr an Brust und Rücken der Patienten? Mit den Fingerknöcheln den Thorax palpieren? Den Kranken tief in die Augen blicken und sagen: »Machen Sie mal – aahh! Zunge heraus bitte. Tief aaaatmen … Atem anhalten … Jetzt werde ich Ihnen den Puls fühlen … schwitzen Sie nachts oft?« Mit der Handkante auf die Kniescheiben schlagen und Reflexe prüfen? Zurück zur Medizin des 18. Jahrhunderts. Die Tatsache war nicht zu übersehen: Dr. Alexander Corell war nach dieser Nacht am Ende seiner Existenz angelangt. Was der Alkohol nicht vermocht hatte – wenigstens nicht so schnell – das hatte der erste Versuch, aus den Sumpf herauszusteigen, geschafft: Der endgültige, kaum noch reparable Zusammenbruch.
»Laß mich allein!« sagte Corell. Er stützte sich auf die Ellenbogen, das kühlende, nasse Tuch rutschte von seinen Augen, er sah Danica neben sich, sie hatte die Haare zusammengebunden und wirkte wie ein Wesen, für das es noch keinen Namen gab. Mühsam hielt er seine geschwollenen Lider oben und überblickte die Zerstörung. »Danica … ich flehe dich an … wenn du mich wirklich liebst … laß mich allein! Fahre zurück nach Piran. Wenn hier alles geregelt ist, komme ich und hole dich. Ich verspreche es dir … ich hole dich zu mir …«
»Du wirst nie kommen, Sascha«, sagte sie.
»Ich schwöre es dir …«
»Was bedeutet ein Schwur? Man sagt ihn so dahin und weiß dabei, daß er doch eine Lüge ist.«
Sie kennt mich schon zu gut, dachte Corell. Ich kann sie nicht mehr belügen. Vielleicht war ich immer ein schlechter Lügner und keiner hat es mir so offen gesagt wie Danica. Aber sie kann nicht hier bleiben, sie muß weg aus diesem Dreck, und wenn man sie nicht überreden oder bitten kann, dann muß man sie quälen und anschreien und den Irren spielen, bis sie von selbst wegläuft. Man muß sie hinauswerfen wie eine Hure, die ihre Schuldigkeit getan hat … alles, alles ist besser als das, was sie erleben wird, wenn sie bei mir bleibt. Man sollte sie an den Haaren aus der Wohnung schleifen und die Treppe hinunterwerfen, man sollte ihr ein Vieh vorspielen, dem zu entrinnen eine Erlösung ist … Aber kann ich das?
Er versuchte, aufzustehen. Danica stützte ihn, er lehnte sich auf ihre schmale Schulter, legte den Kopf auf ihr Haar und sammelte alle Kraft, um sie anzuschreien. Sie schien es zu ahnen, mit einem weiblichen Instinkt, für den es keine Erklärung gibt, faßte nach seiner Hand und legte sie auf ihre Brust.
»Du kannst machen, was du willst, Sascha, – ich gehe nicht«, sagte sie fest. »Wenn du mich hinauswirfst, schlafe ich draußen auf der Treppe. Und wenn die Leute mich fragen, wer ich bin, werde ich sagen: Ich bin Saschas neues Leben, er läßt mich nur noch nicht herein. Aber einmal wird er die Tür aufmachen, und dann muß ich da sein. Darum warte ich hier …«
Es war ihm unmöglich, darauf zu antworten, und es nahm ihm auch allen Mut, Danica mit grober Gewalt aus seiner Wohnung zu entfernen. Er wußte, daß sie es wahrmachen würde: Sie würde auf der Treppe oder unten auf der Straße vor der Haustür sitzen oder gegenüber an der Hauswand stehen, sie würde immer und überall um ihn sein, stets ein paar Meter von ihm entfernt, ständig darauf bedacht, nicht in seine Hände zu kommen, und doch immer zugegen, ein heller Schatten, eine Aureole der Liebe. Nicht anders als ein Hund, den sein Herr tritt, wo immer er ihn sieht, und der doch seinem Herrn überallhin folgt, weil ihn das Rätsel der Zusammengehörigkeit dazu treibt.
Corell humpelte, auf Danicas Schulter gestützt, in die ehemalige Küche. Hier hatte sie bereits gründlich aufgeräumt, die Platte des Eßtisches, dem man die Beine weggerissen hatte, war über die verbeulte Stahlspüle gelegt, auf dem noch intakten Gasherd brodelte das Kaffeewasser in einem der schief geschlagenen Töpfe, und ein anderer Topf stand daneben, aus dem der gemahlene Kaffee duftete.
»Setz dich, Sascha«, sagte sie. Sein Schreibtischsessel, das einzige unversehrte Möbelstück, stand vor dem provisorischen Tisch. Zwei neue Tassen und Teller – aus Runckes SB-Laden –, ein Block Butter, frische Brötchen, gekochter Schinken und ein großes Stück Käse sollten die
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