Ein Sommer und ein Tag
«Vielleicht hat mein Weg mich bis hierhergeführt, damit ich dir jetzt helfen kann und um dir zu beweisen, dass ich ein besserer Mensch bin, als du glaubst. Vielleicht ist das ja mein Ding, das, was mich glücklich macht.»
Sie zögert einen Moment. Es erscheint ihm endlos, und er weiß, dass noch alles offen und der Ausgang des Gesprächs ungewiss ist. Durch das Fenster in der Tür beobachtet er die Uhr draußen auf dem Gang. Der Sekundenzeiger dreht eine Runde und dann noch eine. Schließlich seufzt er, weil er glaubt, sie sei eingeschlafen. Schwerfällig erhebt er sich von dem Stuhl, dessen Beine vernehmlich quietschen. Seine Hand liegt schon auf dem Türknauf, als sie die Augen aufschlägt. Fast, als hätte er es gehört, dreht er sich noch einmal zu ihr um und sieht sie an.
«Bleib», sagt sie. «Für den Augenblick.»
Er nickt.
Ja, denkt er. Für diesen und für immer.
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6
M an sollte meinen, dass ich es nach einem Monat im Krankenhaus kaum erwarten könnte, entlassen zu werden. Dass ich, als Dr. Stark und Alicia an mein Bett treten und mich aus meinen Tagträumen reißen, denen ich mit The Best of Nell Slattery als Soundtrack nachhänge, um mir zu sagen, dass ich nach Hause darf, wenn auch mit einem strengen Reha-Plan und wöchentlich zwei Besuchen beim Psychologen, dass ich da aus dem Bett springen und – ungeachtet meiner fast verheilten Rippen – ihnen vor Begeisterung um den Hals fallen würde. Doch die Nachricht – dass ich bereit sei, in mein altes Leben zurückzukehren – provoziert bei mir lediglich die Frage: Welches alte Leben denn?
Peter musste Anfang der Woche wegen einiger Aufträge nach New York zurück, und ich bin, ehrlich gesagt, froh, endlich wieder Raum für mich zu haben und über alles nachdenken zu können, obwohl ich wirklich versuche, uns eine Chance zu geben, in uns etwas Gutes zu sehen – dem Versprechen zu Ehren, das ich mir selbst gegeben habe. Meine Mutter hat mich noch mehr aufgewühlt, indem sie mich in einer Tour bedrängt hat, meiner Ehe auch wirklich eine echte zweite Chance zu geben. Sie ist wie ein lästiges Surren in meinem Ohr, das sich nicht abschalten lässt.
Kurz nachdem Peter mir seinen One-Night-Stand gestanden hat, kam meine Mutter hereingerauscht und überredete die Ärzte dazu, mit mir eine Runde im Freien drehen zu dürfen. Natürlich wusste sie, wie dankbar ich ihr sein würde – ihr, der ersten Person, die mir nach zwei Wochen sterilem, klimaanlagengefiltertem Sauerstoff zu frischer Luft verhilft. Ihr muss klargewesen sein, dass sie dadurch einen Stein bei mir im Brett haben würde. Sie ist nämlich durchtrieben, meine Mutter. Das ist mir klar, auch wenn ich sie nicht besonders gut kenne. Also hat sie mich ins Freie geschoben, behutsam, als würde sie eine Porzellanvase befördern, und ich sog mit tiefen Atemzügen den Sonnenschein ein, während sie mir was von Verzeihen erzählte. Darüber sprach, dass zu verzeihen etwas sei, das man nie bereuen würde, dass es das größte Geschenk wäre, das man sich selbst machen könne – Du kannst den anderen dabei völlig außer Acht lassen und es nur für dich selbst tun , sagte sie. Darüber dass die Dinge niemals nur schwarz oder weiß sind, auch wenn mein früheres Ich sie meistens so betrachtet hat. Weißt du, es gibt auch Zwischentöne , sagte sie. Darüber dass Verletzlichkeit nie zu meinen Stärken gehörte und dass das jetzt vielleicht anders sein könnte. Ich weihte sie in das Versprechen ein, meine zweite Chance zu nutzen, um ein glücklicheres Leben zu führen, und sie umarmte mich und sagte: «In dir steckt schon jetzt ein neues Leben, eine neue Richtung, ein anderer Verlauf.» Ich nickte, spürte die brennende Hitze der Julisonne auf meinen Wangen und fühlte mich so gut und so versöhnlich, dass ich am liebsten auf der Sonne getanzt hätte. Okay. Ich nickte ihr zu. Verzeihen. Ja. Ich werde es versuchen. Genauso wie mein neues Ich es sich ohnehin vorgenommen hat. Meine Mutter streichelte mir über den Unterarm, lächelte selig wie jemand, der zu viel Morphium genommen hat, und sagte, sie hätte es gewusst, sie hätte gewusst, dass ich jetzt dazu in der Lage wäre.
Trotzdem bin ich froh, dass Peter nach New York zurückgeflogen ist. Nicht weil ich unsere Beziehung nicht wieder aufbauen will oder weil ich glaube, ihm nicht wieder vertrauen zu können, sondern weil der Prozess, ihm zu verzeihen, was meiner Mutter so wichtig ist, unglaublich anstrengend ist. Er erfordert
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