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Ein Sonntag auf dem Lande

Ein Sonntag auf dem Lande

Titel: Ein Sonntag auf dem Lande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bost
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denen man auf der Straße begegnete, die man auf Plakaten, in den Schaufenstern von Zeitungskiosken oder in Filmen sah, als dem gewöhnlichen Personal, das man Familie nennt. Wie das wäre, dachten die Kinder manchmal in ihren verrückten Träumen, eine Mutter wie Tante Irène zu haben! Aber sie begriffen sehr genau, dass solche Dinge nicht passierten und dass es zwei Arten von Frauen gab: Mütter und Tanten wie Irène. Warum das so ist, weiß man nicht, aber es ist so. Ein Glück, dass das Schicksal ihnen als Ergänzung eine Tante Irène geschenkt hatte! Schade nur, dass man sie den Freunden nicht vorzeigen konnte, um ihnen mit ihr zu imponieren.
    Die beiden Jungen kamen näher. Irène küsste sie; sie spürten eine kurze, köstliche Atemnot, die das Parfum, die Berührung und die Bewegungen hervorriefen. Irène machte scheinbar sprunghafte Bewegungen, die aber so wunderbar präzise waren und so genau berechnet abliefen, dass sie nie zu einer Kollision mit einem Gegenstand oder einer Person führten. Monsieur Ladmiral nannte das Anmut, während Gonzague nüchtern begriff, dass seine Schwester das besaß, was man als Charme bezeichnete. Emile hingegen brauchte dafür kein Wort, er war einfach glücklich, dass Irène ihn küsste. Sein Atem stand still; im Bauch kribbelte es, seine Handflächen juckten … ganz abgesehen von anderen sehr eindeutigen Verwirrungen, die er bestens kannte und die eine brennende, lustvolle Neugier, ein unbestimmtes Gefühl von Scham und das heftige Verlangen auslösten, dass Irène ihn nicht für einen kleinen Jungen hielt. Das schlug sich in einer anmaßenden, aggressiven Haltung nieder, die zur Folge hatte, dass Irène ihm, nicht ohne Vergnügen, eine Abfuhr erteilte. Sie war für diese Schwärmerei nicht unempfänglich. Schöne Frauen schätzen jede männliche Würdigung, gleichgültig, von wem sie kommt: Wer den Sou nicht ehrt, ist den Franc nicht wert. Das ist eine der zahlreichen Ähnlichkeiten zwischen Schönheit und Reichtum: Tatsächlich gehen beide fast immer Hand in Hand. Es kommt vor, dass eine schöne Frau arm ist, aber sie bleibt es selten.
    Hellwach und munter betrachtete Monsieur Ladmiral seine Tochter voller Entzücken. In seinem Gesicht klebte nun ein glückliches Lächeln, das man wie auf japanischen Masken unter seinem Bart sah. Er war glücklich. Als Gonzague und seine Frau, noch recht verschlafen und beunruhigt, aus dem Haus kamen, verfinsterte sich seine Miene.
    »So, so«, sagte Monsieur Ladmiral. »Da seid ihr?«
    Es war, als ob sie unerwartet und fast wie Eindringlinge zu einem Familientreffen stießen. Gonzague spürte diese Nuance und ärgerte sich ein wenig – umso mehr, da er Mühe hatte, seinen Kragen zuzuknöpfen.
    »Ich hatte Irène gebeten, dich nicht aufzuwecken«, sagte er.
    »Ich habe nicht geschlafen«, antwortete Monsieur Ladmiral munter.
    »Ich weiß«, sagte Gonzague taktvoll, »aber du hättest dich in aller Ruhe etwas erholen sollen. Was macht ihr da?«, rief er seinen Söhnen zu. »Habt ihr nichts Besseres zu tun, als euren Großvater zu ärgern?«
    »Lass sie doch«, sagte Irène. »Du denkst immer, dass alles ein Ärgernis ist. Also, lass mich mal …« Sie ging auf ihren Bruder zu, um ihm zu helfen, seinen Kragen zuzuknöpfen; er würde damit nie allein fertig werden.
    »Schämst du dich nicht, dich in solche Dinger einzusperren? Papa würde sich das nicht trauen, und überhaupt –«, sie wandte sich Marie-Thérèse zu »– ist das ein Keuschheitsgürtel, den Sie da Ihrem Mann anlegen? Ja, ja, Sie werden sagen, dass Sonntag ist, aber dennoch! Mist! Ich habe mir einen Fingernagel gebrochen. Sieh dir die Bengel an, sie krümmen sich vor Lachen. Wenn ich es recht sehe, sind sie bald alt genug für lange Unterhosen, oder? Ich möchte eure Intimsphäre nicht verletzen, aber ich wette, du trägst lange Unterhosen. Marie-Thérèse, trägt er lange Unterhosen? Ihr wisst, dass ich ein Geschäft aufgemacht habe; ja, natürlich wisst ihr es, ich hatte euch zur Eröffnung eingeladen, und ihr seid nicht gekommen, was ein Fehler war. Emile, mein Neffe, hol mir ein Glas mit irgendwas, beeil dich. Danach machen wir mit Großvater einen Rundgang. Hier stirbt man ja vor Hitze. Papa, du sollst nach dem Essen nicht in der Sonne schlafen. Ihr hättet es ihm sagen müssen, das ist sehr schädlich für ihn. Aber ich habe es schon seit Langem bemerkt«, sagte sie und wandte sich ihrem Vater zu, »die beiden da wollen deinen Tod.«
    Gonzague duldete es nicht,

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