Ein Spiel, das die Götter sich leisten
einsneunzig, eine Hakennase, mit einer Narbe hier über der Augenbraue?
– Ja, genau so, sagte der Kellner erstaunt.
– Einer, der nie traurig ist oder schlecht gelaunt. Er kann gut Leute imitieren.
– Imitieren?
– Nachmachen, er kann die Bewegungen von Menschen nachmachen, Pantomime.
– Ja, das konnte er sehr gut.
Ich saß da und wollte es nicht glauben. Ich hatte Oktay seit über sechs Jahren nicht gesehen, er war nach Saudi-Arabien gefahren, und nach dem Unfall hatte niemand mehr etwas von ihm gehört.
– Er ist mein Cousin, sagte ich und sah von Oriana zum Kellner.
Meine Stimme klang, als käme sie nicht aus meinem Mund.
– Wissen Sie, wo er hingegangen ist, als er hier aufgehört hat?
Wir saßen noch lange da, bestellten noch mehr Wein, und ich erzählte Oriana von Oktay.
– Er ist anderthalb Jahre jünger als ich, aber irgendwie war er immer wie ein älterer Bruder. Wir sahen uns nur in den Ferien, er wohnte mit seinen Eltern in Istanbul. Ich habe ihn immer bewundert, er war so mutig, so verrückt. Alle mochten ihn gerne, weißt du, manchmal war ich ein wenig eifersüchtig. Er schien nie traurig zu sein, er nahm das Leben nicht richtig ernst, von klein auf. In all den Jahren habe ich ihn nur einmal weinen sehen. In der neunten Klasse ist er sitzengeblieben, weil sein bester Freund sitzengeblieben ist. Er hat einfach nicht mehr gelernt, um wieder mit Kerim in dieselbe Klasse zu gehen. Er hat es auch noch angekündigt. Ich warte auf Kerim, hat er seinen Eltern gesagt, und sie konnten ihn nicht davon abhalten.
Nach der Schule hat er dann die Aufnahmeprüfungen zur Universität nicht geschafft und hat erst mal ein Jahr gekellnert, vierzehn, sechzehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, und er hat sich nie beschwert. Ist doch ein guter Job, hat er seinem Vater gesagt, der gehofft hatte, ihm würden endlich die Augen aufgehen, wenn er die harte Seite des Lebens kennenlernt. Ich bin jeden Tag auswärts essen, im Gegensatz zu euch, hat er seine Eltern aufgezogen. Es hat ihm nicht mal was ausgemacht, daß er gar keine Zeit für Mädchen hatte. Egal, was passierte, Oktay hat gelacht. Und er hat auch die anderen immer aufgemuntert. Wenn wir abends ausgingen, hat er sich um alle gekümmert, er wollte, daß jeder sich gut amüsiert, und wirkte dabei nicht mal wie ein nervöser Gastgeber. Er war jemand, der wußte, daß er gute Laune verbreiten konnte, und es reichte ihm nicht, Spaß zu haben, er wollte mit allen teilen. Doch er konnte dich auch in Ruhe lassen, er wußte, wann es gut war, er war kein Vergnügungsterrorist. Und er konnte verdammt gut zuhören.
Im folgenden Jahr hat er dann die Aufnahmeprüfungen geschafft, aber mit so wenigen Punkten, daß er nur für ein Studium der Ernährungswissenschaften zugelassen wurde. Aus dir wird nie etwas, hat sein Vater gesagt, mit so einem Studium bekommt man doch keine Arbeit, die einen ernährt.
Doch Oktay hat das gar nicht beeindruckt, nach dem Studium hat eine Zeitlang in Werkskantinen gearbeitet, er war für die Menüzusammenstellung und den Einkauf verantwortlich, er hat oft gekündigt, manchmal ist er geflogen, nirgendwo blieb er lange. Nach Ablauf der Probezeit forderte er meistens eine Verdopplung seines Gehalts, könnte doch sein, daß sie es zahlen, sagte er.
Eines Tages hat er eine Stelle in Saudi-Arabien angenommen. Keine Frauen, eine Hitze, daß du nicht auf die Straße kannst, kaum Ablenkung oder Unterhaltungsmöglichkeiten, fast keine Gesellschaft. Er war Koch bei einem Scheich, ich weiß gar nicht, was er sich davon versprochen hat, es ging ihm nie ums Geld. Irgendwann ist er verschwunden, weg. Es wurde gemunkelt, er habe mit einer der Frauen des Scheichs geschlafen und es sei irgendwie rausgekommen. Zuzutrauen wärs ihm.
Ich hab ihn oft beobachtet und gestaunt, daß es so einen Menschen gibt. Lern was aus deinen Fehlern, das war das Wichtigste, was mein Vater versucht hat mir beizubringen. Und Oktay war das immer egal, in seinen Augen hat er nie Fehler gemacht, es war immer alles gut und richtig so. Niederlagen haben ihn nicht im geringsten beeindruckt, er hat sich nie gegrämt, glaube ich.
Sechs Jahre, sechs Jahre kein Lebenszeichen. Er und Borell, an die beiden muß ich oft denken. Als Oktay und ich noch klein waren, gab es in Tophane, in Istanbul, unweit der Wohnung von Oktays Eltern, ein großes Holzhaus mit einer himmelblauen Tür, wo Männer ein und aus gingen und manchmal Frauen aus dem Fenster lehnten und rauchten. Wir wußten
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