Ein Spiel, das die Götter sich leisten
Geschichte und verteilte das Fleisch. Die Menschen beschlossen, das Feuer in ihren Besitz zu bringen, und gingen zum Haus des Jaguars. Da er nicht zu Hause war, stahlen die Menschen nicht nur das Feuer, sondern auch das Fleisch und Pfeile und Bögen.
Der Jaguar war so entzürnt über die Undankbarkeit Botoques, daß er fortan zur Jagd seine Klauen benutzte und das Fleisch roh aß. Doch in seinen Augen kann man immer noch den Widerschein des Feuers sehen.
Als ich so weit rausgeschwommen war, daß ich nicht mehr die asphaltierte Straße erkennen konnte, dachte ich über die Geschichte nach, die Oriana mir am Strand erzählt hatte.
– Was findest du denn an der Geschichte? hatte ich gefragt.
– Es geht, glaube ich, um die Bedeutung des Feuers, hatte Oriana gesagt, das Feuer hebt den Menschen vom Tier ab, es ist zum Wohl der Menschen. Aber für ihr Wohl muß es Opfer geben. Man könnte glauben, daß Botoque undankbar ist, aber er ist einfach bereit, für das Wohl aller Menschen das Geheimnis des Jaguars zu offenbaren. Er tötet die Frau, es muß etwas sterben, damit eine neue Ordnung entsteht. Es muß Leid geben, damit das Chaos aus der Welt verschwindet.
Mir gefiel diese Interpretation nicht besonders, sie schien mir eine unzureichende Erklärung für das Leid.
Außerdem hätte ich es vorgezogen, im Chaos zu leben. Was für einen Sinn hatte der Unfall gehabt? Meine Eltern, Ebru, Tante Özlem, sie waren weg. Gab es seither eine neue Ordnung in meinem Leben. Was war an ihre Stelle getreten.
Als Oriana von dem Jaguar erzählt hatte, war mir Borell eingefallen. Auch er hatte diese Kraft und Eleganz und das Feuer in den Augen und etwas, das vielleicht ein feierlicher Verzicht war auf Dinge, die den meisten Menschen wichtig sind. Ja, Borell war ein Jaguar.
Die Schamanen Südamerikas verwandelten sich ebenfalls in Jaguare und besuchten so die Ober– und Unterwelt, um zu heilen und wahrzusagen. Das wußte ich, weil ich mich für die halluzinogenen Pflanzen interessiert hatte, die den Schamanen die Tore zu der Welt der Geister öffneten. Und das schien mir das Wesentliche an dieser Geschichte zu sein.
Es gab nicht viele Erklärungen, wie das Wissen in die Welt kam, das Feuer, Pfeil und Bogen, das Ayahuasca der Schamanen. Wo war der Ursprung und wie war das Wissen um den Ursprung verlorengegangen?
Ayahuasca, Yage, der Wein der Toten, brachte nach dem Glauben einiger südamerikanischer Stämme das Wissen in die Welt, es lehrte sie Gut und Böse, die Eigenschaften der Tiere, die eßbaren Pflanzen und die Heilmittel. Aber wie hatten sie dieses Getränk entdeckt? Ein Gebräu aus zwei Pflanzen, die jede für sich wirkungslos waren, zusammen gekocht aber ein so mächtiges Halluzinogen ergaben. Das hatten die Menschen kaum durch Ausprobieren herausgefunden, wenn man bedachte, wie viele verschiedene Pflanzen es im Regenwald gab und wie viele mögliche Kombinationen. Dieses Wissen mußte ein Geschenk der Götter gewesen sein.
Die Wirkstoffe der einen Pflanze hemmten bestimmte Enzyme im Körper, und so erst konnte das DMT, der Wirkstoff der anderen Pflanze, einen in Sphären katapultieren, die mir als erste aller Rauschwelten völlig real erschienen waren. Damals hatte ich zum ersten Mal geglaubt. Ohne jeden Zweifel. Ich hatte etwas gefunden, das mir die Schuppen von den Augen nahm, meine Persönlichkeit auflöste, mich in religiöse Verzückung versetzte und mich die Götter wirklich sehen ließ. Ich hatte etwas gefunden. Etwas, das wieder nur meine Sehnsucht nährte, in diesem Leben genauso überwältigende Erfahrungen zu machen.
Ich drehte mich auf den Rücken, strampelte ein wenig mit den Beinen, wartete auf eine Eingebung, was wir noch tun konnten, um Oktay zu finden. Laß uns heute in den großen Hotels nachfragen, hatte Oriana vorgeschlagen. Es konnte sein, daß wir dort mehr Erfolg hatten, aber ich wollte mir nicht zuviel davon versprechen, ich wollte mir nicht schon wieder die Laune verderben, ich hatte mich doch schon vor längerer Zeit damit abgefunden, Oktay nie wieder zu sehen. Er war möglicherweise der einzige Mensch auf der Welt, bei dem ich wieder das Gefühl für Ordnung und Wärme bekommen konnte, er war der letzte Rest Familie, den ich noch hatte, verschollen, verschwunden, unerreichbar. Langsam schwamm ich zurück.
Oriana lag nicht auf unserem Handtuch. Ich entdeckte sie zehn Meter weiter im Gespräch mit den beiden Frauen, die heute wieder nur Unterwäsche anhatten. Die Kräftigere trug ein grünes
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