Ein Spiel um Macht und Liebe
bestimmt davon gewußt, wenn er ungewöhnlich musikalisch gewesen wäre.
Mit einem Seufzen nahm sie eine Kerze, schlüpfte in ihre Schuhe und legte sich eine alte, wollene Stola um. Da die Neugier, woher die Musik wohl stammen mochte, sie ohnehin wachhalten würde, konnte sie ebensogut versuchen, die Quelle gleich auszumachen.
Mit der Kerze in der Hand entriegelte sie ihre Tür und trat in den Flur. Das Licht flackerte im Luftzug, und die tanzenden grotesken Schatten an den Wänden und das Trommeln des Regens verliehen ihr das Gefühl, mitten in eine Spukgeschichte hineingeraten zu sein. Sie schauderte und überlegte kurz, ob sie Nicholas wecken sollte, verwarf den Gedanken aber. Der Teufelsgraf nackt im Bett war weit gefährlicher, als jeder Geist es sein könnte.
Ihre Suche führte sie zu einem Zimmer im entlegensten Teil des Erdgeschosses. Ein schwaches Licht drang unter der Tür hervor, was sie höchst ermutigend fand – es war anzunehmen, daß Geister keine Lampen brauchten.
Vorsichtig drehte sie den Türknauf. Als die Tür halb geöffnet war, hielt sie verblüfft inne. Dort im Zimmer hielt sich kein Phantom auf.
Aber ein Geist hätte sie weniger überrascht.
Kapitel 8
EIN ZUGEDECKTER FLÜGEL in der Ecke ließ darauf schließen, daß sie sich im Musikzimmer des Hauses befand, aber es war Nicholas, an dem ihr faszinierter Blick hängenblieb. Er saß mit verträumter Miene auf einem Stuhl vor dem flackernden Feuer und hielt eine kleine Harfe gegen seine linke Schulter gepreßt. Die Reglosigkeit seiner Gestalt kontrastierte mit der Lebendigkeit seiner Finger, die unermüdlich über die Saiten tanzten und dem Instrument eine Melodie entlockten, die an helle, zerbrechliche Glocken erinnerte.
Auch wenn sie ihn überall wiedererkannt hätte, so kam er ihr doch plötzlich wie ein Fremder vor. Er war nicht länger der launische Aristokrat oder der bedrohliche Schürzenjäger, sondern wirkte wie die Verkörperung eines legendären keltischen Barden
– ein empfindsamer, gequälter Mann mit Gaben, die über die eines gewöhnlichen Menschen hinausgingen. Die Verwundbarkeit, die sie in seiner Miene entdeckte, berührte Clare, und eine innere Stimme flüsterte, daß er und sie vielleicht doch gar nicht so verschieden waren. Und solche Gedanken waren gefährlich.
Nun begann er auf Walisisch zu singen, und seine tiefe Stimme klang süß und voll wie dunkler Honig.
Maienzeit, schönste Zeit,
Süß sind die Vögel,
grün ist der Wald…
Nach zwei weiteren Zeilen ging die fröhliche Musik in eine klagende Moll-Tonart über.
Wenn der Kuckuck in den Wipfeln singt, Dann wird mein Leid gar groß.
Es brennt der Rauch,
Leid läßt sich nicht verbergen, Denn meine Lieben, die sind tot.
Leise wiederholte er die letzte Zeile und legte all das Leid der Welt in seine Stimme.
Clare hatte die Melodie zwar noch nie gehört, aber sie erkannte die Verse, die aus dem mittelalterlichen Black Book of Caermarthen stammten, einer der ältesten walisischen Schriften überhaupt. Tränen brannten nun in ihren Augen, denn die Worte hatten sie noch nie so tief berührt. Die Magie der Weise weckte in ihr eine tiefe Traurigkeit, und sie beklagte all das, was sie verloren hatte, all das, was sie niemals haben würde.
Erst als die letzten Töne verklangen, war auch der Bann vorbei, und sie seufzte tief.
Das Geräusch ließ Nicholas’ Kopf herumfahren, und seine Finger fuhren unwillkürlich über die Saiten, was einen schrillen Mißton hervorbrachte.
Seine Verletzlichkeit hatte sich in einem Sekundenbruchteil zu Feindseligkeit gewandelt.
»Sie sollten im Bett liegen, Clarissima.«
»Sie auch.« Sie betrat das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. »Warum nennen Sie mich so?«
Seine Miene entspannte sich. »Clare bedeutet klar, rein, direkt. Clarissima ist der Superlativ auf italienisch. Am klarsten, reinsten, direktesten. Es paßt zu Ihnen.«
Sie ging zu ihm und hockte sich auf die Kante eines Stuhles neben ihm. »Ich wußte gar nicht, daß sie musikalisch begabt sind.«
»Das ist auch keine allgemein bekannte Tatsache«, erwiderte er trocken. »In alten Zeiten hat ein walisischer Gentleman die Harfe beherrschen müssen, um sich seinem Rang würdig zu erweisen, aber wir sind inzwischen nicht mehr so zivilisiert. Verraten Sie mein geheimes Laster nicht.«
»Musik ist doch kein Laster – es ist eine der großen Freuden des Lebens«, sagte sie. »Wenn das eine Stichprobe Ihres wilden, verderbten Gebarens war, dann muß ich
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