Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
der Rennen in Newmarket. Es gab keine Preise und auch kein Preisgeld, aber falls die Pferde sich auf Lord Hampshires Strecke gut machten, vergrößerten sich die Chancen beträchtlich, die tausend Guineas in Rowley Mile einzustreichen.
Von Freitagabend an fluteten die Gäste durch das Haus, während die Rennen selbst am Samstag vom ersten Sonnenstrahl an bis Sonnenuntergang stattfanden. Um die Mittagszeit waren die Gäste eingeladen, sich ihre eigenen Rennen zu liefern: Dreibein-Rennen, Rückwärtslaufen und andere Dummheiten, wenn man nur auf sie wetten und über sie lachen konnte. Denn falls es überhaupt Ladys oder Gentlemen gab, die nicht so pferdeverrückt waren wie die Hampshires oder viele ihrer Gäste, durften sie sich keinesfalls langweilen – nein, ganz gewiss nicht. Ihnen wurde tagsüber eine Reihe unerschöpflicher Vergnügungen geboten, die von einem Schwätzchen über Tee bis zu Krocket oder Bowling reichten. Vor dem Hampshire House lag ein kleiner See für diejenigen, die gern angelten, und dahinter war ein großer Irrgarten aus Hecken angelegt worden, in dem sich jährlich mehrere kichernde Jungfrauen verirrten, die von ihren Schönlingen gerettet werden mussten.
Aber seinen überragenden Ruf hatte sich dieses Ereignis bei den Hampshires wegen einer anderen Sache verdient – wegen dem, was geschah, wenn am Samstag die Nacht anbrach.
Feuerwerke der besten Hersteller Chinas wurden importiert, damit sie hier den Himmel erleuchteten – in pferdeähnlichen Figuren und Formen. Die Festmahle, die aufgetischt wurden, waren der örtlichen rustikalen Küche entlehnt. Und natürlich wurde auch getanzt, und zwar in einem Ballsaal, der großartiger war als der vieler Anwesen in London. Drei Orchester spielten auf, sodass weder die Musik noch die Nacht jemals zu enden schienen. Und an buchstäblich hundert Stellen im Haus und dem umgebenden Park, an denen man sich verstecken konnte, folgte darauf nicht selten so manch Unfug und Lustbarkeit.
Was zu den Dingen gehörte, über die Marcus sich Sorgen machte.
Als die Sonne hinter dem Horizont versank, fuhren Byrne und Marcus in Grahams Kutsche vor (Mariah hatte nichts davon hören wollen, dass sie die Strecke zu Pferde zurücklegten, schon gar nicht wegen Byrnes Verletzung). Mit seinen roten Backsteinmauern machte das Haus im georgianischen Stil einen freundlichen Eindruck.
»Das ist alles verrückt«, brummte Byrne atemlos, »wir hätten uns ebenso gut als Diener einschleichen können.«
»Dein Bein hätte uns todsicher verraten«, konterte Marcus zartfühlend.
»Ich wäre durchaus ein paar Tage ohne Stock ausgekommen … «, widersprach Byrne.
»Um dann für den Rest deines Leben mit einem einzigen auszukommen? Du bist dümmer, als ich es je vermutet habe. Übrigens«, fuhr er fort, bevor Byrne zurückschnappen konnte, »kennen mich hier schon viel zu viele Leute.«
»Mrs. Benning sei Dank«, erwiderte Byrne gereizt.
»Spricht es eigentlich gegen deine Prinzipien als Spion, den Vordereingang zu benutzen?«, fragte Marcus. »Du weißt doch, dass es manchmal das Beste ist, sich in aller Öffentlichkeit zu zeigen, um sich zu verbergen.«
Aber Byrnes ohnehin schon finsterer Blick verdüsterte sich noch mehr, als ein livrierter Lakai die Kutschentür öffnete. Byrne stieg aus, stützte sich dabei schwer auf seinen Stock und sog die Luft ein paar Mal tief in die Lungen seines abgemagerten Körpers ein.
Ein Jahr liegt es zurück, dachte Marcus, körperlich sollte er eigentlich wieder genesen sein.
Sie hatten nur einen kleinen Koffer mit Kleidung bei sich, der ihnen sofort von einem anderen Lakaien ins Haus getragen wurde, während ein weiterer den Kutscher zu dem Kutschenhaus und den Ställen dirigierte.
»Wenn man die Dienerschaft mitzählt, müssten ungefähr fünfhundert Leute hier sein«, schätzte Byrne.
»Zählt man all die Rennpferde, die Züchter, die Jockeys und die Leute aus der Gegend, die morgen zum Zuschauen kommen, würde ich sagen, es sind eher tausend«, sagte Marcus, während sie das große Hauptfoyer traten.
Hampshire House war wirklich ein beeindruckendes Gebäude. Kannelierte Marmorsäulen wiesen den Weg zum Eingang und führten in eine Halle aus rosafarbenem Marmor, dessen Decke sich bis in das zweite Stockwerk erstreckte. Die kalte steinerne Oberfläche der Wände war mit Malereien übersät. Jedes Bild zeigte Pferde, die entweder friedlich auf einer Wiese grasten oder wie der Wind rannten. Wirklich pferdeverrückt, dachte Marcus,
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