Ein Stueck vom Himmel
kümmerlichen Fäden bestand.
Die letzten Meter des Querganges sollten die schwierigsten sein.
Raimund Schinko: »Es gilt aus unsicherer Trittschlinge heraus zu einem windschiefen Kantenvorsprung zu spreizen und auf dem glitschigen runden Buckel mit Druck und Gegendruck an einem schlechten Seitengriff genug Reibung und somit Halt zu finden.« Auch an dieser Stelle hing noch das Moderseil. Ich zog daran – und hielt das gerissene Ende in der Hand.
Wir wechselten in der Führung. Eine Stunde lang konnte ich Leo zusehen, wie er mit allen seinen Kräften und Tricks versuchte, über diese letzten eineinhalb Meter – mehr sind es nicht! – des Quergangs hinwegzukommen. Es gelang ihm nicht.
»Der Schinko muss Haxen gehabt haben wie eine Giraffe!«, sagte er, als er wieder auf den Standplatz zurückkam.
Raimund Schinko kam 1943 von einem Spähtrupp an der Ostfront nicht mehr lebend zurück. Keiner von uns Jungen hatte ihn noch kennengelernt. Für uns war er ein Idol, von dem jeder seine eigenen Vorstellungen hatte. Ich sah in ihm nach der Begehung einiger Schinkowege am Hochschwab einen Mann, der so groß war, dass er alle Griffe erreichte, die für andere unerreichbar waren. Für Leo musste er lange Beine wie eine Giraffe gehabt haben.
Erst Jahre später lernte ich Fritz Sikorovsky kennen, Schinkos Partner von der Todesverschneidung und Stangenwand-Südostwand. Bei beiden Touren hatte er ebenfalls entscheidende Kletterstellen als Seilerster bezwungen. Von ihm wollte ich wissen, wer und wie Raimund Schinko war.
»Zuletzt war er Finanzbeamter!«, sagte er. Das war ein Tiefschlag für mich. Mein Idol, mein Klettergott war ein Finanzbeamter!
»Wie ein wilder Hund hat er wirklich nicht ausgeschaut!«, sagte Sikorovsky lächelnd. »Aber – er war einer! Und er war auch ein phantastischer Freikletterer, der sich wo festhalten konnte, wo nix zum Halten war. Ich weiß nicht, wie er das gemacht hatte.«
Leo und ich konnten das nicht. Wir kamen einfach nicht über die eineinhalb Meter Fels hinüber. Höher oben ging es auch nicht, unter uns brach die Wand mit einem Überhang ab.
Und unter dem Überhang? – Anschauen kostet nichts!
»Das bringt nix!«, sagte Leo.
»Aber besser ist es, als nur blöd dreinschauen!«
Im Dülfersitz schwebte ich tiefer und an der Kante des Überhanges sah ich unter mir eine hangelbreite Leiste, die zum zweiten Biwakplatz der Erstbegeher führte. Mit diesem Abseilen hatten wir die Schwierigkeiten des großen Querganges wesentlich entschärft. Und soviel ich erfahren konnte: Alle Begeher der Südostwand haben nach uns diese Variante benützt. Natürlich hatten wir zwei uns narrisch gefreut über die zweite Begehung der Stangenwand-Südostwand. Aber später beim Erinnerung-Aufwärmen fragten wir uns auch immer wieder, wie der Schinko diese saudummen eineinhalb Meter Fels des Quergangs derpackt hatte? Einmal sagte Leo: »I glaub, dass ich da links oben doch eine winzige Vertiefung gesehen hab. Aber jetzt ist das sowieso schon Schnee von gestern!«
Aber manche Kletterstellen vergisst man nicht, auch wenn man sie gar nicht derpackt hat und wenn sie heute nur noch Schnee von gestern sind. An diesen eineinhalb Meter Fels hatte ich meine Grenzen erkannt. In die Todesverschneidung bin ich nicht eingestiegen.
Aber auch heute noch hätte ich es gerne gewusst, wie der Raimund Schinko diese eineinhalb Meter Fels derpackt hat.
Originelle Ausstiegslöcher
Von der Autobahn Wien–Salzburg ist der Traunstein (1691 m) schon von weitem zu sehen. Und in Nieder- und Oberösterreich gibt es nur wenige Aussichtswarten, von denen aus dieser markante Berg am Nordrand der Alpen nicht zu sehen ist. Sogar von der Aussichtswarte auf dem Hermannskogel über Wien will man den 184 Kilometer weit entfernten Berg gesehen haben. Diesen Berg wollten wir nicht nur immer sehen, sondern auch einmal ersteigen.
Dafür gab es aber noch einen Grund. Zum Traunsee bricht der Berg mit einer etwa 1200 Meter hohen Steilflanke ab, durch deren Felsen zwei gesicherte Steige führen, etliche Kletterrouten, darunter auch der Paulikamin.
Ein Gmundner Kletterer hatte mir vom Paulikamin erzählt, dass dieser einen originellen Ausstieg habe: »... da schließt sich der Kamin und wird zu einem finsteren engen Schluff, durch den man unterhalb des Gipfels wieder ins Freie kommt. In dem Loch sind schon viele stecken geblieben, die zu blad oder zu blöd fürs Klettern waren!«
Das war für uns der zweite Grund für eine Traunstein-Ersteigung.
Weitere Kostenlose Bücher