Ein süßer Sommer
Familie in Philadelphia lebte, wie sie mir erzählt hatte. Philipp Assmann hatte sich bei seiner Befragung zum Thema Steuerpolitik auf die Nachbarin beschränkt, die unmittelbar neben den Schmittings wohnte. Wobei unmittelbar ein relativer Begriff ist. Es waren sehr große Grundstücke. Und wir durften nie zu viel Aufsehen erregen, damit den observierten Personen nicht zu Ohren kam, dass jemand Erkundigungen über sie einzog. Die eine Nachbarin hatte sich aber als ergiebige Quelle erwiesen, weil Margarete sich manchmal mit ihr über den Gartenzaun austauschte. Dabei ging es zwar meist um andere Blümchen als die, für die Holger Gerswein sich stets interessiert hatte. Margarete war offenbar eine begeisterte Gärtnerin. Aber hin und wieder verlor sie auch ein paar Sätze über Familienangehörige. Gertrud und Paul in Augsburg, Tom, Schwiegertochter Heather und zwei Enkelkinder in den Staaten. Es traf zu, dass die komplette Familie Schmitting lange Jahre in den USA gelebt hatte. Bis vor sieben Jahren war das Anwesen in Hamburg-Blankenese von einem Filmstar bewohnt gewesen. Ob die Schmittings es dem Eigentümer abgekauft hatten oder ob es sich um Margaretes Elternhaus handelte, das nur vermietet gewesen war, wusste die Nachbarin nicht. Sie hatte ihre Villa erst vor zehn Jahren gekauft. waren zuerst Rüdiger und Helen zurückgekehrt. Beide waren seitdem an der Hamburger Universität beschäftigt, sie hatte in den letzten Monaten allerdings nicht mehr arbeiten können wegen ihrer Risikoschwangerschaft. Vor zwei Jahren waren dann Edgar, Margarete und das Nesthäkchen Candy in die Villa eingezogen. Und «unsere Kleine» befand sich zurzeit auf einem Trip quer durch Europa, für den sie monatelang hart gearbeitet hatte. Die Schmittings waren zwar vermögend, hielten aber nichts davon, ihre Kinder zu verwöhnen.
«Kein Wort von Helga», resümierte Hamacher. Aber Philipp hatte auch nicht gezielt nach einer Helga gefragt. Es musste sie geben. Sie hatte von Oktober bis zum Sommer in Köln studiert. Die alte Frau Scherer hatte Helgas Aufenthalt in der Stadt nicht nur bestätigt, sie hatte Helga Kuhn auch anhand des Fotos wiedererkannt, war mit der Familie Schmitting vertraut gewesen. Als Uli Hoger eintraf, brachen wir zusammen auf. Das Aufnahmegerät mussten wir wieder mitnehmen. Uli klemmte es erneut an meine Telefonleitung. Dann fuhren wir mit dem Aufzug hinauf zu meiner Wohnung. Hamachers Anweisung konnten wir nicht komplett Folge leisten. Meine Scheherezade war nicht da, nur ihr Gepäck stand hinter meiner Schlafzimmertür. Der immer noch gut gefüllte Geldgürtel steckte an der Seite. Fotoalbum und Märchenbuch waren in dem schwarzen Schlauch eingewickelt. Uli wollte auf Candy warten, ich nicht. In meinem Schlafzimmer bekam ich keine Luft. So fuhr ich allein zurück zur Agentur. Hamacher blätterte zuerst im Fotoalbum, stellte die Ähnlichkeit zwischen der jüngeren und älteren Margarete fest. Das junge Paar auf dem Weihnachtsfoto von hielt er für Helen und Rüdiger. Und Helga – gut, dem Album nach zu urteilen schien sie zur Familie zu gehören. Wahrscheinlich war sie die jüngste Schwester von Margarete – und für Candy Tante Helga, wie sie es der alten Frau Scherer erklärt hatte. Hamacher entlarvte das zweckentfremdete Gebetbuch mit einem Blick als Fälschung. Das hätte ich eigentlich auch sehen müssen, dass dieses Büchlein nicht vor zwanzig Jahren entstanden sein konnte, meinte er. Die Klebestreifen sahen viel zu frisch aus. Er gab beide Bücher ins Labor, dort sollten sie alles abfotografieren, damit wir größere Abzüge bekamen. Dann diskutierten wir eine Weile, wobei die meiste Zeit er sprach. Zuerst vertrat er die Ansicht, die Herz-Schmerz-Geschichte sei komplett der Phantasie eines jungen Mädchens entsprungen, das locker eine sterbenskranke Mutter aus dem Ärmel schüttelte, um einen ganz bestimmten Mann kennen zu lernen. Allerdings ließ das die Frage offen, wie sie von der Existenz dieses Mannes erfahren hatte. Oder Candy hatte auf irgendeinem Dachboden tatsächlich alte Tagebücher von der Tante gefunden. Die höchstwahrscheinlich lesbar geschrieben gewesen seien, meinte Hamacher. Wer machte sich denn die Mühe, seine täglichen Gedanken und Erlebnisse zu codieren? Wer trennte fein säuberlich sämtliche Seiten aus einem Gebetbuch und klebte mittels Tesafilm neue ein? So einen Aufwand betrieb nur ein Mädchen, das ein ganz bestimmtes Ziel verfolgte. Bis Mittag war Uli Hoger noch nicht zurück. Und
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