Ein süßer Sommer
wäre auch keine hundertprozentig sichere Lösung gewesen. Wer wusste denn, wann Gerswein das nächste Mal in seinen Briefkasten schaute? Abgesehen davon, was hätte Hamacher dem Herrn Ministerialrat mitteilen sollen? Dass der erste Bericht über Erika Jungblut nur die Oberfläche gekratzt hatte? Dass einer seiner Mitarbeiter eine Zufallsbekanntschaft bei sich aufgenommen hatte? Ja, darüber sprachen wir auch. Ich war viel zu schockiert, um damit noch hinter dem Berg zu halten. Philipp Assmann meldete über Funk, aus Gersweins Wohnung sei kein Ton zu hören. Entweder war niemand da oder die Wanze lag in meinem Küchenschrank.
«Drück mal auf die Klingel», verlangte Hamacher. Das tat Philipp, es kam keiner an die Tür. Aber Hamacher kannte auch die Privatadresse seines Stammkunden, schickte Philipp noch nach Marienburg, wo eine Hausangestellte mitteilte, Herr Doktor Gerswein und die gnädige Frau seien unterwegs.
«Gut», sagte Hamacher.
«Den haben wir aus der Schusslinie.» Auch so ein Satz, der mir immer noch im Ohr klingt. Philipp durfte Feierabend machen, sollte ein paar Stunden schlafen, dann zurück nach Hamburg fahren und direkten Kontakt zur Familie Schmitting aufnehmen, sich nach Helga erkundigen und Mami erklären, wo die Kleine sich derzeit aufhielt und wen sie dort kennen gelernt hatte. Uli Hoger kam aus Klettenberg zurück und bestätigte alles, was ich über meine Unterhaltung mit Frau Scherer von mir gegeben hatte. Obwohl Uli hundemüde war, schickte Hamacher ihn nochmal zum Wiener Platz, irgendwann musste Candy ja wieder in meiner Wohnung auftauchen. Im Labor waren währenddessen unzählige großformatige Fotos entwickelt worden. Tamara tippte bis um fünf die letzten dreißig Seiten aus dem Märchenbuch ab und ließ den Computer die restliche Arbeit tun. Dann machte sie Feierabend. Hamacher überlegte sogar, Hartmut Bender aus Düsseldorf zurückzupfeifen. Doch das war einerseits unmöglich und andererseits überflüssig. Zwei Mann im Einsatz, mich zählte er nicht mit, ich war auch nicht einsatzfähig. Eine Menge Aufwand, für den niemand zahlte, und das nur für eine verworrene Geschichte. Vielleicht für ein junges Mädchen, das nichts weiter wollte als ein Abenteuer mit dem tollen Mann, den Tante Helga vor zwanzig Jahren in Köln gehabt hatte. Mit Tante Helgas ehemaligem Freund ins Bett zu hüpfen war nicht verboten, nur so verdammt persönlich. Wenige Minuten vor sieben gab Uli Hoger Candys Ankunft durch.
«Soll ich sie mitbringen?»
«Nein», entschied Hamacher. Wir waren auch nicht befugt, eine Person gegen ihren Willen
«mitzubringen». Und dass Candy einen ihr Fremden freiwillig zur Agentur Hamacher oder sonst wohin begleitete, war auszuschließen. Dass sie noch einmal auf Tour ginge, konnte ich mit ziemlicher Sicherheit ausschließen. Sie musste davon ausgehen, dass ihr dämlicher Steuerberater jeden Moment nach Hause käme. Also durfte auch Uli nach Hause fahren, ich jedoch nicht. Die Couch in seinem Büro sei sehr bequem, meinte Hamacher, ehe er sich verabschiedete. Frau Grubert, die ich ja schon lange im Verdacht hatte, dass sie nur in Sekundenintervallen schlief, blieb als Wachhund bei mir, damit ich mich nicht doch noch auf den Heimweg und Dummheiten machte. Man kann wirklich nicht behaupten, Hamacher hätte in dieser unseligen Angelegenheit zu irgendeinem Zeitpunkt nachlässig oder gar fahrlässig gehandelt. Dass ich mich nicht sofort auf die Couch im Chefbüro legen wollte, verstand er. Ich war ja kein kleines Kind mehr, das man um sieben ins Bett schickte. Ich war auch überhaupt nicht müde, nur halbtot. Frau Grubert bekam die Anweisung, mir die Flasche für gute Kunden auszuhändigen. Damit könnte ich mir die nötige Bettschwere verschaffen – und den Schmerz vielleicht betäuben. Ich bekam sogar die Erlaubnis, im Sekretariat nachzuschauen, ob Tamara die letzten dreißig Fotos vom Märchenbuch sauber abgetippt hatte. Nachdem Hamacher endlich weg war, stellte Frau Grubert mir die Flasche mit Hochprozentigem sowie ein Glas auf Tamaras Schreibtisch. Sie selbst genehmigte sich auch ein Gläschen, zog sich damit ins Vorzimmer zurück und telefonierte mit einer Bekannten. Ich rief die Datei auf, die Tamara freundlicherweise mit
«Herz» betitelt hatte, und begann mit dem letzten Textstück. Warum sich mit dem vorletzten oder dem vorvorletzten aufhalten, wo die letzte Seite im Gebetbuch von all diesen Herzchen umrahmt war? Und darunter das eine, das zweifellos ein gebrochenes
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