Ein süßer Sommer
Herz darstellen sollte. Es musste doch damit eine besondere Bewandtnis haben. Helgas kurzer Aufenthalt in Köln im Sommer , ein letztes Treffen mit Gerswein. Und das wollte ich als Erstes lesen. Warum mir das so wichtig war? Ist doch logisch. Helga durfte nicht Candys Tante sein, das hätte ich nicht ausgehalten. Ich hatte in den letzten Stunden meine eigene Theorie entwickelt, mich nur gehütet, sie mit Hamacher zu erörtern. Helga war
«meine Mutter» und Muttileinchen. Und Mami war eine liebevolle und vernünftige Frau, nahm ich jedenfalls an. Wenn die Geschichte von der Geburt auf See stimmte, was ja nicht bewiesen war, aber wenn, dann war diese Geschichte des Rätsels Lösung. Eine vernünftige, über vierzigjährige, zum dritten Mal schwangere Frau begleitet ihren Mann nicht auf eine mehrmonatige Forschungsreise. Wenn allerdings die vernünftige Frau nur an ihre kleine Schwester dachte, der sie eine vermeintliche Schande ersparen wollte, sah die Sache anders aus. Sein Forschungsteam hatte Dad bestimmt gut an der Kandare gehabt. Als das Schiff wieder in den Heimathafen einlief, erfreute Margarete sich nach zwanzigjähriger Pause an neuem Mutterglück. Helga dagegen war einsamer als je zuvor, verzehrte sich vor Sehnsucht nach dem Liebsten, fragte sich, warum sie nicht um ihr Glück gekämpft hatte, wie sie hatte gehen können. Nur mit den Füßen, sie war gestorben dabei. Das hatte nur noch keiner gemerkt. Verdammt nochmal, Candy hatte es doch zitiert. Aber es stand nirgendwo. Der letzte Eintrag war am . August gemacht worden. Das Datum stand in der ersten Zeile.
«Sie sind alle sehr lieb zu mir. Es fällt mir schwer, mich ohne Abschied davonzuschleichen, aber ich kann nicht anders. Mit wem soll ich auch noch reden? Immer wissen sie besser als ich, was für mich das Beste ist. Also gehe ich heimlich wie eine Diebin in der Nacht, ich fühle mich schlecht. Eine Frau, die alle betrügt und hintergeht, um dem eigenen Glück nachzujagen. Und ich kann nicht einmal mehr sagen, ich tue es doch nicht nur für mich. Ich tue es nur für mich. Ich will endlich wieder leben.» Meine Augen waren trocken, die Lider schwer, es musste am Monitor liegen. Kein Wort von einem Kind und keins über die Absicht, nach Deutschland zu fliegen. Ich las das vorletzte und das vorvorletzte Stück. Und noch eins und noch eins und noch eins. Immerhin fand ich einige Zeilen über eine Entscheidung, die Helgas Herz in zwei Teile zerrissen hatte, die jedoch für alle Beteiligten die beste Lösung war, auch wenn sie für Helga vordergründig einen weiteren Verzicht bedeutete. Ein paar Sätze über Margarete, die eine so gute und liebevolle Mutter war, wie Helga glaubte, nie eine sein zu können. Gut möglich, dass Helga Recht hatte, dass Candy, wäre sie von Helga erzogen worden, heute ein genauso schrulliges Wesen wäre. Ich hatte mit inzwischen sechs oder sieben Gläschen Cognac genug vom Geist des Weines intus, um den völligen Durchblick zu haben und meine Überzeugung zu festigen. Besoffene können ziemlich stur sein, aber manchmal entwickeln sie auch eine ungeahnte Phantasie. Auch wenn es nicht im Märchenbuch stand, ich wusste genau, wie es gewesen war. Weil es nicht anders gewesen sein durfte. So verlogen konnte Candy nicht sein, sich diese ganze Herz-Schmerz-Geschichte und Mamis elendes Sterben aus den Fingern zu saugen, nur um Tante Helgas tollen Freund aus Jugendjahren persönlich kennen zu lernen. Helga war vom schönen Holger schwanger gewesen, als sie im Sommer aus Köln floh. Sie hatte im April ihr Kind heimlich an Bord eines Forschungsschiffes bekommen. Im Mai war sie mit ihrer Tochter im Arm beim blühenden Kirschbaum fotografiert worden und drei Monate später aufgebrochen, um ihrem Einzigen vom heroischen Verzicht zu berichten und ihn damit vielleicht zurückzugewinnen. Doch der schöne Holger hatte Helga etwas gehustet. Er war fest entschlossen, seine von und zu Geldadel zu ehelichen und Karriere im Staatsdienst zu machen. Das konnte er sich doch von einem Blümchenkleid nicht kaputtmachen lassen. Und wie war es mit Helga weitergegangen? Warum wurde sie bei Gesprächen über den Gartenzaun in Blankenese nie erwähnt? War doch ganz einfach. Nach der eiskalten Abfuhr schleppte Helga sich mit wundem Herzen zurück zum Bahnhof und fuhr nach Afrika, um zehn kleinen Negerlein von Adorno und seinen philosophischen Ergüssen zu erzählen. Ehe man nach dem Himmel greift, sollte man auf Erden stehen können. Vielleicht hatte Helga schon
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