Ein süßer Sommer
Dann wurde die Tür zugedrückt, anscheinend verstaute sie Kostüm, Schuhe, Gürtel und Plastiktüte in ihrer Reisetasche. Als sie die Schlafzimmertür wieder öffnete, hielt sie das ehemalige Gebetbuch in der Hand, nahm ihr Täschchen vom Bett, öffnete es, zog ein Foto heraus, betrachtete es sekundenlang mit eingezogener Unterlippe, schlug sich mehrfach damit in den linken Handteller und schob es dann in die Tasche zwischen dem gelösten Einband und dem festen Karton des Büchleins. Danach ging sie ins Wohnzimmer, setzte sich auf die große Couch, legte das Buch auf den Beistelltisch, griff nach dem Telefon und nahm es in den Schoß. Ihre Finger huschten über die Tastatur, den Hörer mit der Schulter ans Ohr gepresst, verschränkte sie die Beine im Schneidersitz und begann zu lächeln, wehmütig, fast schmerzlich. Ihre Stimme passte nicht dazu, klang jung und sorglos, munter wie ein Spatz auf dem Dach.
«Ja, hier auch. Hallo, Mami, nicht böse sein, dass ich mich jetzt erst melde. Ich wollte dich vorgestern schon anrufen, und für gestern hatte ich es mir ganz fest vorgenommen. Aber du weißt ja, wie das ist, wenn ich mir etwas ganz fest vornehme. – Nein, das war bestimmt nicht das schlechte Gewissen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie aufregend die letzten Tage waren. Hat Tante Gertrud dir nicht ausgerichtet, dass ich …» Offenbar wurde sie unterbrochen, lauschte sekundenlang. Dann lachte sie zärtlich und intensiv.
«Das kann ich mir denken. Aber ich habe ihr gleich gesagt, dass ich nicht die ganze Zeit in Augsburg bleibe. Und du weißt ja, wie sie ist. Sie ließ sich jeden Tag etwas Neues einfallen, um mich nicht zum Bahnhof bringen zu müssen. Da darf sie sich nicht wundern, wenn ich fahre, ohne mich zu verabschieden.» Eine Pause, in der Mami vielleicht drei oder vier Sätze von sich gab, wobei Candy die Zähne in die Unterlippe grub. Dann sprach wieder sie, Protest vom Scheitel bis zu den Fußsohlen:
«Onkel Paul hat mir erlaubt, die Tasche zu nehmen. Ich brauchte doch Verpflegung für unterwegs, und in meinem Rucksack war kein Platz mehr. Aber an ihrem Schreibtisch war ich nicht. Ich habe in ihrem Arbeitszimmer nur einen Fahrplan gesucht. Was vermisst sie denn? Vielleicht hat Onkel Paul …» Erneute Unterbrechung. Candy schob einen Daumen zwischen die Zähne und kaute am Nagel. Dann wieder munter und fröhlich:
«Ja, natürlich, Mami, mir geht es bestens. Das war ein echter Glückstreffer, ehrlich. Die Leute sind alle sehr nett, eine richtig lustige Clique, alle in meinem Alter. – Nein, wir sind noch in Paris, in einer winzigen Pension am Montmartre. Die Besitzerin ist die Großtante von einem der Mädchen. Sie hat mir erlaubt, das Telefon in ihrem Büro zu benutzen, deshalb ist es so still, Mami. Morgen oder übermorgen wollen wir weiter.» Daraufhin gab Mami wohl eine längere Erklärung ab oder stellte einige Fragen. Candy lauschte und knabberte dabei weiter am Daumennagel, dann sagte sie:
«Drei oder vier Wochen, dachte ich. Die wollen runter nach Spanien, da möchte ich gerne mit. Leisten kann ich mir das, ich habe noch nicht viel ausgegeben. Hältst du es denn noch drei oder vier Wochen ohne mich aus? Du hast mir noch gar nicht gesagt, wie es dir geht. Alles okay bei euch? Was macht Helen? Sie leidet bestimmt unter der Hitze, oder?» Jetzt sprach wieder Mami, und Candy wischte mit einem Handrücken über die Augen. Ihre Stimme klang ein wenig belegt.
«Ich vermisse dich auch sehr. Aber du musst dir keine Sorgen machen, Mami, wirklich nicht. Du kennst mich doch. Ich passe gut auf, ehe ich einem auch nur die Hand gebe, habe ich ihn mir ganz genau angeschaut. – Bis dann, Mami, ich hab dich lieb. Grüß alle und gib Dad einen dicken Kuss von mir.» Sie legte auf, stellte das Telefon zurück auf den Tisch. Das Gesicht so starr wie eine Gipsskulptur, griff sie nach dem zweckentfremdeten Gebetbuch, betrachtete es mit zuckenden Lippen, wiegte den Oberkörper vor und zurück wie ein Kind auf einem Schaukelpferd. Dabei schluchzte sie gerade so laut, dass ich es noch verstand:
«Was soll ich bloß tun, Muttileinchen? Ich weiß nicht mehr weiter. Warum hilfst du mir nicht? Hilf mir doch.» Minutenlang ging es so, ehe sie das Schaukeln einstellte und ihre Sitzhaltung veränderte. Nie im Leben werde ich diesen Anblick vergessen. Ich muss nicht einmal die Augen schließen, um es überdeutlich vor mir zu sehen. Mit nackten Füßen, die Beine untergezogen, einen Ellbogen auf die Couchlehne
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