Ein süßer Sommer
gestützt, den Kopf gesenkt, saß sie da, das kleine, ledergebundene Buch auf den Oberschenkeln. Als sie den Kopf hob, das Deckblatt zurückschlug, mit den Fingerspitzen über die erste eingeklebte Seite strich, sah ich, dass sie weinte. Ich sah auch, dass ihre Lippen sich bewegten. Sie murmelte etwas. Verstehen konnte ich nichts. Und ich wollte nur noch verschwinden. Aber da hatte ich mir nun selbst einen großen Riegel vorgeschoben. Länger als eine Stunde steckte ich noch zwischen Staubsauger, Putzeimer und Bügelbrett im Schrank fest und durfte mich nicht bewegen, um keinen Lärm zu verursachen. Beobachtete durch die Belüftungsschlitze, wie Candy zuerst den Tränen freien Lauf ließ, nicht einmal den Versuch machte, sie mit dem Handrücken von den Wangen zu wischen. Nur das Buch schützte sie davor, indem sie es zuerst mit beiden Händen abdeckte und später gegen die Brust drückte. Aus den Tränen wurde ein Zucken und Schluchzen, der ganze Körper erzitterte darunter, wurde durchgeschüttelt wie in einem Krampf. Es war kein Vergleich mit den Tränen, die in der Nacht zum Sonntag geflossen waren. Das war schon schlimm gewesen, nun war es weit schlimmer. Und die ganze Zeit über saß sie steif und aufrecht da, kniff vor Elend und Schmerz die Augen zusammen, presste die Lippen aufeinander, grub die Zähne hinein. So hatte ich noch nie einen Menschen weinen sehen. Jedes Mal, wenn ich dachte, ich könne es keine Minute länger ertragen, beruhigte sie sich ein wenig, um dann erneut in dieses Elend auszubrechen. Nur ganz allmählich fand die Verzweiflung ein Ende. Die Schluchzer wurden weniger, ein paar Mal schüttelte sie so heftig den Kopf, als wolle sie irgendwelche Gedanken zu den Ohren hinausschleudern. Dann endlich legte sie das Büchlein zurück auf den Tisch und erhob sich von der Couch. Sie kam in die Diele, und einen Moment lang befürchtete ich, sie würde den Schrank öffnen. Aber sie ging nur ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Als sie den Wasserhahn aufdrehte, nutzte ich die Gelegenheit zur Flucht. Es war tatsächlich eine Flucht. Ich saß danach minutenlang im Auto, völlig verunsichert und erschüttert, im Zweifel, ob ich nicht wieder hinaufgehen müsste. Ganz offen die Wohnung betreten, nach ihr rufen, ihr Gesicht betrachten, feststellen, dass sie geweint hatte und fragen, warum. Sie in die Arme nehmen. Mehr wollte ich gar nicht, sie nur halten und trösten, wenn das möglich sein sollte. Und den Grund erfahren für diesen Ausbruch und ihre Schwindeleien. Ich kannte sie erst seit zwei Tagen, wusste so gut wie nichts von ihr, spürte nur den unbändigen Drang, sie zu beschützen und ihr zu helfen. Sie war so sehr Kind in Mutters Schuhen. Ein einsames Kind und ein völlig verzweifeltes. Und ich wollte wissen, woran sie verzweifelte. Dass ich es von ihr selbst erfahren würde, glaubte ich nicht. Dann hätte sie doch in den beiden Tagen mal etwas gesagt, zumindest eine Andeutung gemacht. Also ließ ich den Motor an und fuhr über die Mülheimer-Brücke zurück. Eine halbe Stunde später betrat ich die Agentur. Frau Grubert lächelte bei meinem Eintreten sanft.
«Der Chef möchte Sie sprechen, Herr Schröder.» Ob Hamacher eigens auf mich gewartet hatte, keine Ahnung. Viel Zeit hatte er nicht, der nächste Termin drückte. Statt einer Begrüßung grinste er und erkundigte sich jovial:
«Was sollte denn die Verfolgungsjagd eben?» Meine Antwort wartete er nicht ab, sprach gleich weiter:
«Frau Grubert sagte, du kennst diese Frau – Schmitt und ihre Familie.» Vor dem Namen ließ er gekonnt eine Pause einfließen. Ich sollte wissen, wie er darüber dachte.
«Woher? Und was verstehst du unter flüchtig?» Da ich nicht sofort antwortete, zuckte er mit den Achseln.
«Na, das geht mich ja nichts an. Aber verrate mir wenigstens, warum du unbedingt sofort hinter ihr herfahren musstest und dafür ein unauffälliges Auto brauchtest. Darum ging es doch. Und wenn möglich wüsste ich auch gerne ihren richtigen Namen.»
«Schmitt», sagte ich.
«Candida Schmitt, Rufname Candy. Die Familie hat lange Zeit in den Staaten gelebt. Vor zwei Jahren sind sie zurück in die alte Heimat gekommen.» Hamacher grinste wieder und meinte lakonisch:
«Wenn du das so genau weißt, nehme ich mal an, du hast beim Umzug geholfen. Und warum warst du hinter ihr her?»
«War ich gar nicht», widersprach ich und mischte die Tatsachen mit der Version, die ich bereits geboten hatte.
«Frau Grubert hatte mich herzitiert. Ich
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