Ein süßer Traum (German Edition)
in Julias Gesicht hervortraten und ihre Arme wie knochige Stöcke aussahen.
Beide waren so traurig, so bedrückt. Wie bei Menschen mit einer schweren Depression schien die graue Landschaft, die sie jetzt umgab, die einzige Wahrheit zu sein. »Offenbar bin ich ein alter Mann, Julia«, scherzte er und versuchte, in sich den vornehmen Herrn zum Leben zu erwecken, der ihr die Hand geküsst und sie vor allen Schwierigkeiten geschützt hatte. Das war die Konvention gewesen. Aber jetzt erkannte er, dass er keineswegs so gewesen war, sondern nur ein einsamer alter Kerl, für den alles von Julia abhing, in jeder Hinsicht. Und sie, die gütige, kultivierte Dame, deren Haus so vielen Schutz geboten hatte, auch wenn sie so oft darüber geschimpft hatte, wäre ohne ihn eine emotional bedürftige alte Närrin gewesen, vernarrt in ein Mädchen, das nicht einmal ihre Enkelin war. So kamen sie einander und sich selbst in ihren schlechten Tagen vor wie Schatten, die ein kahler Baum auf die Erde wirft – ein dünnes, leeres, filigranes Muster, ohne die Wärme des Fleisches –, deren Umarmungen und Küsse zaghaft sind, Gespenster, die einander zu finden versuchen.
Johnny hörte, dass Wilhelm bei Julia wohnte, und er kam und sagte, es komme doch wohl nicht in Frage, dass man Wilhelm womöglich Geld hinterlassen würde. »Das hat mit dir nichts zu tun«, sagte Julia. »Ich spreche darüber nicht. Und wo du schon einmal hier bist, will ich dir sagen, dass ich, die deine verlassenen Frauen und Kinder unterstützen musste, dir also nichts hinterlasse. Warum fragst du nicht deine kostbare Kommunistische Partei, ob sie dir eine Rente zahlt?«
Das Haus hatte sie Colin und Andrew zugedacht, und sowohl Phyllida als auch Frances waren mit anständigen, wenn auch nicht gerade üppigen Renten ausgestattet. Sylvia hatte gesagt: »Ach, Julia, bitte nicht, ich brauche kein Geld.« Julia bedachte Sylvia dennoch in ihrem Testament; Sylvia brauchte vielleicht nichts, aber Julia musste es tun.
Sylvia war im Begriff, Großbritannien zu verlassen, wahrscheinlich für lange Zeit. Sie ging nach Simlia, in eine Missionsstation im afrikanischen Busch. Als Julia das hörte, sagte sie: »Dann sehe ich dich nicht wieder.«
Sylvia besuchte ihre Mutter, um sich zu verabschieden, nachdem sie zuvor angerufen hatte. »Nett, dass du mich informierst«, sagte Phyllida.
Ihre Wohnung lag in einem großen Herrenhaus in Highgate, und an der Türsprechanlage stand, dass hier Dr. Phyllida Lennox und Mary Constable, Physiotherapeutin, zu finden waren. Ein kleiner Lift fuhr knirschend durch die unteren Stockwerke hinauf wie ein fügsamer Vogelkäfig. Sylvia klingelte, hörte einen Schrei und wurde eingelassen, aber nicht von ihrer Mutter, sondern von einer molligen, vergnügten Dame, die unterwegs nach draußen war. »Dann lasse ich euch mal allein«, sagte Mary Constable und zeigte so, dass sie Vertrauliches wusste. Der kleine Flur hatte etwas von einer Kirche, was, wenn man genauer hinsah, an einem großen Buntglasfenster in Bonbonfarben lag, das den heiligen Franziskus mit seinen Vögeln zeigte – sicherlich eine moderne Arbeit. Es stand angelehnt auf einem Stuhl wie ein Firmenschild der Spiritualität. Die Tür ging auf, und man sah ein großes Zimmer, beherrscht von einem bequemen Sessel, über den eine Art orientalischer Teppich drapiert war, und von einer durch Freuds Wohnung in Maresfield Gardens inspirierten steifen und unbequemen Couch. Phyllida war jetzt eine korpulente Frau mit dicken Zöpfen aus ergrauendem Haar zu beiden Seiten eines matronenhaften Gesichts. Sie trug einen vielfarbigen Kaftan und mehrere Perlenketten, Ohrringe, Armbänder. Sylvia, die ein schlaffes, weinerliches, schwammiges weibliches Wesen vor Augen gehabt hatte, musste sich an diese derbe Frau gewöhnen, die sichtlich an Selbstvertrauen gewonnen hatte.
»Setz dich.« Phyllida zeigte auf einen Stuhl, der nicht im therapeutischen Teil des Zimmers stand. Sylvia nahm vorsichtig auf dessen Kante Platz. Ein würziger, provozierender Geruch … hatte Phyllida angefangen, Parfum zu tragen? Nein, der Duft von Räucherstäbchen drang aus dem Nebenzimmer, dessen Tür offen stand. Sylvia nieste. Phyllida schloss die Tür und setzte sich in ihren Beichtvater-Sessel.
»Na, Tilly, wie ich höre, wirst du die Heiden bekehren?«
»Ich gehe in ein Krankenhaus, als Ärztin. Es ist ein Missionskrankenhaus. Ich bin dann die einzige Ärztin in der Gegend.«
Der großen, starken Frau und dem elfenhaft
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