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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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aufzuhören, denn ihm taten die Rippen weh. Dr. Lehmann untersuchte ihn und ließ Frances, Julia und Colin anschließend wissen, dass es mit dem alten Mann zu Ende gehe. »So ein Sturz ist nicht gut in seinem Alter.« Er verschrieb ihm Beruhigungsmittel und Julia verschiedene Tabletten. Endlich erlaubte er ihr, sich alt zu finden.
    Frances und Rupert nahmen beim
Defender
ihr Recht in Anspruch, eine andere Ansicht zu vertreten als die Befürworter der unilateralen Abrüstung, und schrieben einen Artikel, auf den Dutzende von Briefen folgten, die fast alle wütend Einspruch erhoben oder beleidigend waren. In den Verlagsräumen des
Defender
kochte es, und Frances und Rupert fanden auf ihren Schreibtischen barsche oder zornige Notizen, manche waren anonym. Ihnen wurde klar, dass diese Wut so tief in gewissen Teilen des kollektiven Unterbewusstseins saß, dass sie nicht vernünftig diskutiert werden konnte. Es ging nicht darum, ob die Bevölkerung geschützt wurde oder nicht: Sie hatten keine Ahnung, um was es wirklich ging. Für beide war es sehr unangenehm beim
Defender
. Sie beschlossen zu gehen, obwohl es keinem von ihnen in finanzieller Hinsicht passte. Sie waren einfach am falschen Ort. Das waren sie immer gewesen, beschloss Frances. Und die vielen langen, wohlbedachten Artikel über soziale Themen? Die hätte jeder schreiben können, sagte Frances. Rupert bekam kurz darauf eine neue Stelle bei einer Zeitung, die ein typischer
Defender
-Abhängiger faschistisch nannte, die breite Öffentlichkeit jedoch konservativ. »Dann bin ich wohl ein Tory«, sagte Rupert, »wenn wir die alten Etiketten ernst nehmen wollen.«
    In der Woche, in der sie kündigten, wurde ein Päckchen mit Kot durch eine Tür in Julias Haus geschoben – allerdings durch die zur Souterrainwohnung, in der Phyllida noch immer wohnte. Eine Morddrohung erreichte Frances, anonym. Auch an Rupert wurde eine Morddrohung geschickt, zusammen mit Fotos von Hiroshima nach dem Bombenabwurf. Phyllida kam nach oben – zum ersten Mal seit Monaten – und sagte, sie verbitte es sich, in diese »lächerliche Debatte« mit hineingezogen zu werden. Sie sei nicht bereit, sich mit Scheiße zu befassen, auf keiner Ebene. Sie ziehe aus. Sie werde sich eine Wohnung mit einer anderen Frau teilen. Und dann war sie fort.
    Was die vergiftete Debatte darüber anging, ob die Bevölkerung geschützt werden sollte oder nicht, so war man bald allseits der Meinung, dass ein Krieg so lange vermieden worden war, weil die möglichen kriegführenden Nationen Atomwaffen besaßen und sie nicht einsetzten. Trotzdem blieben Fragen offen, die durch dieses Eingeständnis nicht beantwortet wurden. Unfälle in Atomeinrichtungen konnten passieren und passierten auch, aber gewöhnlich wurden sie vertuscht. In der Sowjetunion hatte es Unfälle gegeben, durch die ganze Gebiete radioaktiv verseucht worden waren. Es gab Verrückte auf der Welt, die nicht zögern würden, »die Bombe« oder auch mehrere zu werfen, und es war zumindest seltsam, dass man von dieser Bedrohung gewöhnlich im Singular sprach. Die Bevölkerung war weiter ungeschützt, aber die Gewalt, die atomare Bedrohung, die tobenden Debatten verpufften einfach – aus und vorbei. Dabei war die Bedrohung noch nie größer gewesen als jetzt, da die Hysterie verdampfte. »Merkwürdige Geschichte«, sagte Julia in ihrem neuen, kummervollen, schleppenden Tonfall.
    Wilhelm wohnte weiterhin bei Julia, und seine große, luxuriöse Wohnung stand leer. Er sagte immer wieder, er werde all seine Bücher holen lassen und der »erstaunlich absurden Situation« ein Ende machen, in der er eigentlich nicht bei Julia wohnte, aber irgendwie doch. Ständig machte er Termine mit den Möbelpackern und sagte sie wieder ab. Er war nicht mehr er selbst. Er musste seinen Willen bekommen. Julia war bedrückt. Die beiden waren jetzt zusammen wie zwei Kranke, die füreinander sorgen wollen, aber durch ihre Schwäche daran gehindert werden. Julia litt an einer Lungenentzündung, und eine Weile lagen die beiden Invaliden auf verschiedenen Etagen und schickten einander Notizen. Dann wollte Wilhelm unbedingt aufstehen und sie besuchen. Sie sah, wie der alte Mann in ihr Zimmer schlurfte und sich dabei an Türen und an Stuhllehnen festhielt, und sie dachte, dass er aussah wie eine alte Schildkröte. Er trug eine dunkle Jacke und hatte eine kleine, dunkle Mütze auf, weil sein Kopf immer kalt war, und streckte den Kopf nach vorne. Und er erschrak, weil die Knochen

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