Ein süßer Traum (German Edition)
verspottete, nichts Besonderes, aber damals erschien er Frances wie eine kurze Vision des Himmelreichs, wie eine Schwalbe, die zu Besuch aus der Fülle der Zukunft kam. Sie konnte es nicht anrühren, das wäre ein Verbrechen gewesen. Das Kinn in die Hände gestützt, saß sie da und betrachtete es und dachte, dass sie Julia offenbar doch nicht gleichgültig war.
Tränen rannen ihr über die Wangen. Weihnachten weinte man. Das musste so sein. Sie weinte, weil ihre Schwiegermutter so gut zu ihr und ihren Söhnen war, und wegen des bezaubernden Essens. Und weil sie nicht fassen konnte, was sie alles schon durchlebt und bewältigt hatte, und dann, um zur Sache zu kommen, weinte sie um das Elend vergangener Weihnachtsfeste. Oh mein Gott, dieses Weihnachten, als die Jungen klein waren und sie in diesen schrecklichen Zimmern wohnten und alles so hässlich war und sie oft froren.
Dann wischte sie sich die Augen und blieb sitzen, allein. Eine Stunde, zwei Stunden. Keine Seele im Haus … die Radiomusik kam von unten, nicht von nebenan, aber sie beschloss, es nicht zu beachten. Vielleicht hatte jemand das Radio angelassen. Vier Uhr. Die Gas- und Elektrizitätswerke waren sicher einmal mehr erleichtert, dass das Land das nationale Weihnachtsessen bewältigt hatte. Müde und verdrossene Frauen – von Land’s End bis zu den Orkneys – setzten sich jetzt hin und sagten: »Aber den Abwasch übernehmt ihr.« Na dann, viel Glück.
In Sesseln und Sofas dösten die Leute ein, hörten der Rede der Königin nur mit halbem Ohr zu, geplagt von den Folgen übermäßigen Essens. Es wurde dunkel. Frances stand auf, zog die Vorhänge zu, machte Licht. Sie setzte sich wieder, bekam Hunger, brachte es aber nicht über sich, das hübsche Festessen zu ruinieren. Also aß sie ein Stück Brot mit Butter und schenkte sich ein Glas Tio Pepe ein. In Kuba hielt Johnny jetzt wem auch immer Vorträge über irgendetwas: wahrscheinlich über die Zustände in Großbritannien.
Warum ging sie nicht nach oben, um ein Schläfchen zu machen, die Möglichkeit hatte sie nicht oft. Die Haustür zum Flur wurde von draußen geöffnet, dann die Küchentür, und Andrew kam herein.
»Du hast geweint«, verkündete er und setzte sich dicht neben sie.
»Ja, hab ich. Ein bisschen. Das war schön.«
»Ich weine nicht gern«, bemerkte er. »Ich fürchte mich davor, weil ich Angst habe, dass ich nicht mehr aufhören kann.« Jetzt wurde er rot und sagte: »Oh mein Gott …«
»Ach, Andrew, das tut mir so leid.«
»Was denn? Verdammt, wie kannst du nur denken …«
»Wahrscheinlich hätte man alles anders machen können.«
»Was? Was denn? Oh
Gott
.«
Er schenkte Wein ein, dann saß er zusammengekrümmt da, wie Jill vor ein paar Tagen.
»Es ist Weihnachten«, sagte Frances. »Weiter nichts. Nichts ruft so elende Erinnerungen hervor.«
Als wollte er diesen Gedanken abwehren, machte er eine Handbewegung, die sagte: Genug, sprich nicht weiter. Und er beugte sich vor, um Julias Geschenk genauer zu betrachten. Wie Frances tauchte er einen Finger in die Suppe – eine anerkennende Grimasse. Er kostete ein Stückchen Jakobsmuschel.
»Ich fühle mich wie eine schreckliche Heuchlerin, Andrew. Ich habe alle weggeschickt, damit sie brave Kinder sind, dabei bin ich auch kaum nach Hause gefahren, nachdem ich ausgezogen war. Und wenn ich am Weihnachtstag hinfuhr, dann bin ich am nächsten Morgen, wenn nicht sogar noch am selben Tag wieder verschwunden.«
»Ich frage mich, ob sie zu Weihnachten nach Hause gefahren sind – deine Eltern.«
»Deine Großeltern.«
»Ach ja, das sind sie wohl.«
»Ich weiß nicht. Ich weiß so wenig von ihnen. Da war der Krieg, so eine Art Riss durch mein Leben, und auf der anderen Seite war dieses Leben. Und jetzt sind sie tot. Als ich ausgezogen war, habe ich so wenig wie möglich an sie gedacht. Ich kam einfach nicht mit ihnen zurecht, also habe ich sie nicht besucht. Und jetzt bin ich hart zu Rose, weil sie nicht nach Hause fahren will.«
»Du warst aber doch nicht fünfzehn, als du von zu Hause weggegangen bist?«
»Nein, achtzehn.«
»Na also, damit bist du entlastet.«
Über diese Absurdität mussten sie lachen. Wunderbar, wie sie sich verständigten: wie gut sie mit ihrem ältesten Sohn zurechtkam! Zumindest traf das zu, seit er erwachsen war – also im Grunde noch nicht sehr lange. Was für ein Vergnügen das war, was für ein Trost für …
»Und Julia, sie ist doch sicher auch nicht besonders oft zu Weihnachten nach
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