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Ein süßer Traum (German Edition)

Ein süßer Traum (German Edition)

Titel: Ein süßer Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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seinen eulenhaften Ausdruck an den Tag, und als er eine weitere Litschi knackte und sie Rose zart zwischen Daumen und Zeigefinger reichte, sah er aus wie ein junger Richter, dem nur noch die Perücke fehlt. Sie saß da und behielt die Litschi eine Weile im Mund, wie ein Kind, das nicht schlucken will. Schließlich schluckte sie doch und sagte dann: »Das ist Beschiss.«
    Sofort zogen die Brüder den Teller mit dem Obst zu sich hin und teilten es untereinander auf. Rose saß mit offenem Mund da und starrte sie an, und jetzt fing sie wirklich an zu weinen. »Ihr seid so schrecklich«, heulte sie. »Ich kann doch nichts dafür, dass ich noch nie chinesisch gegessen habe.«
    »Aber Christmas Pudding hast du schon mal gegessen, und den bekommst du jetzt«, sagte Frances.
    »Ich habe solchen Hunger«, schluchzte Rose.
    »Dann iss Brot mit Käse.«
    »Brot mit Käse, zu Weihnachten?«
    »Sonst habe ich nichts«, sagte Frances. »Und jetzt hältst du den Mund, Rose.«
    Rose hörte mitten im Heulen auf, starrte Frances ungläubig an und legte die ganze Gebärdenskala der missverstandenen Heranwachsenden an den Tag: blitzende Augen, schmollender Mund und wogender Busen.
    Andrew schnitt eine Scheibe Brot ab, bestrich sie dick mit Butter und dann mit Käse. »Hier«, sagte er.
    »Ich werde fett, wenn ich die ganze Butter esse.«
    Andrew zog sein Angebot zurück und fing selbst an zu essen, während Rose dasaß und vor Empörung und Tränen schier platzte. Als keiner sie beachtete, griff sie nach dem Brotlaib, schnitt eine dünne Scheibe ab, beschmierte sie mit ein wenig Butter und legte ein paar Krümel Käse darauf. Statt zu essen, starrte sie das Brot an:
Schaut, das ist mein Weihnachtsmenü.
    »Ich singe jetzt ein Weihnachtslied«, sagte Andrew, »um uns die Zeit bis zum Christmas Pudding zu vertreiben.«
    Er fing mit
Stille Nacht
an, und Colin sagte: »Halt’s Maul, Andrew, das halte ich nicht aus, wirklich nicht.«
    »Der Pudding müsste jetzt fertig sein«, sagte Frances.
    Sie richtete den riesigen, glänzenden, dunklen Puddingberg auf einer schönen blauen Platte an, verteilte Teller und Löffel und schenkte Wein ein. Der Stechpalmenzweig von Julias Opfergabe diente als Verzierung für den Pudding. Schließlich fand sie eine Büchse Vanillesoße, und dann begannen sie zu essen.
    Es dauerte nicht lange, und das Telefon klingelte. Sophie in Tränen, also ging Colin eine Etage weiter nach oben, um ausführlich mit ihr zu reden. Höchst ausführlich, aber irgendwann kam er wieder nach unten und sagte, er werde zu Sophie gehen und dort übernachten, die arme Sophie komme nicht zurecht. Vielleicht werde er sie auch mit hierherbringen.
    Dann hörte man draußen Julias Taxi, und Sylvia kam mit gerötetem Gesicht und lächelnd herein, ein hübsches Mädchen: Wer hätte das vor ein paar Wochen für möglich gehalten? Sie machte in ihrem Braves-Mädchen-Kleid einen Knicks vor ihnen, und Frances und Andrew freuten sich, sie amüsierten sich über den Spitzenkragen, die Spitzenmanschetten und die Stickerei. Hinter ihr kam Julia herein. Frances sagte: »Ach, Julia, bitte setz dich doch.«
    Aber Julia hatte Rose gesehen, die jetzt, wo ihr Make-up vom Weinen verschmiert war, aussah wie ein Clown und die Christmas Pudding in sich hineinstopfte. »Ein andermal«, sagte sie.
    Man konnte sehen, dass Sylvia gern bei Andrew geblieben wäre, doch sie ging mit Julia hinauf.
    »Blödes Kleid«, sagte Rose.
    »Stimmt«, sagte Andrew. »Gar nicht dein Stil.«
    Dann fiel Frances ein, dass sie sich bei Julia noch nicht bedankt hatte, und sie rannte, erschrocken über sich selbst, die Treppe hinauf. Auf dem obersten Treppenabsatz holte sie Julia ein. Jetzt sollte sie Julia umarmen, sollte die steife, kritische alte Frau einfach in die Arme nehmen und küssen. Sie konnte nicht, ihre Arme wollten sich partout nicht heben, sie wollten nicht nach Julia greifen und sie festhalten.
    »Danke«, sagte Frances. »Das war so nett von dir. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe …«
    »Ich bin froh, dass es dir geschmeckt hat«, sagte Julia und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Frances fühlte sich überflüssig und lächerlich und sagte: »Danke, vielen Dank.« Sylvia fiel es nicht schwer, Julia zu küssen, und sie ließ sich küssen und festhalten, und saß sogar auf Julias Knien.
     
    Es war Mai, die Fenster standen offen, und draußen war ein freundlicher Frühlingsabend, die Vögel gaben sich größte Mühe, den Verkehr zu

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