Ein süßer Traum (German Edition)
behandelte?
Frances saß allein in der Küche, und der Tisch, den sie gewischt und gewachst hatte, glänzte wie ein Teich. Das ist wirklich ein sehr schöner Tisch, dachte sie, jetzt, wo man ihn sehen kann. Keine Teller und keine Tassen und keine Leute. Es war Weihnachten, und soeben hatte sie Colin und Sophie zum Abschied nachgerufen, die beide für das Weihnachtsessen angezogen waren. Sogar Colin, der gute Kleidung verabscheute. Auch Julia war zusammen mit ihrer Stiefenkelin gegangen, in einem grauen Samtkostüm und einer Art Haube mit einer Rose daran und einem bläulichen Schleier. Sylvia trug ein Kleid, das Julia ihr gekauft hatte, und Frances war froh, dass die Jeans- und T-Shirt-Träger es nicht gesehen hatten: Sie wollte nicht, dass sie über Sylvia lachten, denn ebenso gut hätte sie in diesem blauen Kleid vor fünfzig Jahren in die Kirche gehen können. Einen Hut hatte sie allerdings nicht tragen wollen. Andrew schließlich war zu Phyllida gefahren, um sie zu trösten. Er hatte den Kopf durch die Tür gesteckt und gesagt: »Wir beneiden dich alle, Frances. Na ja, alle außer Julia, sie regt sich auf, weil du allein bist. Und du musst damit rechnen, dass du ein kleines Geschenk bekommst. Sie war zu schüchtern, um es dir zu sagen.«
Frances saß allein da. Überall in diesem Land mühten sich die Frauen am Herd ab. Ein paar Millionen Truthähne wurden mit Fett beträufelt, während der Christmas Pudding dampfte und aus den Töpfen mit Rosenkohl Schwefeldämpfe emporstiegen. Ganze Kartoffelfelder wurden zu Brei zerstampft und um die Vögel herum angerichtet. Allerorten regierte die schlechte Laune, aber sie, Frances, saß allein da wie eine Königin. Nur Menschen, die unter dem Druck unverschämter Teenager oder emotional Abhängiger gestanden haben, die saugen und futtern und fordern, kennen das reine Vergnügen, frei zu sein, wenn auch nur eine Stunde lang. Frances spürte, wie sich ihr ganzer Körper entspannte, sie war wie ein Ballon, der bereit war, aufzusteigen und davonzufliegen. Und es war still. In anderen Häusern frohlockte oder hämmerte Weihnachtsmusik, aber hier, in diesem Haus, lief kein Fernseher, nicht einmal ein Radio … Moment, kam da nicht ein Geräusch von unten – war Rose etwa doch da? Aber hatte sie nicht gesagt, sie werde mit Jill zu deren Cousine fahren? Die Musik kam sicher von nebenan.
Alles in allem also Stille. Sie atmete ein, sie atmete aus, ach, welch ein Glück, es gab für einige Stunden absolut nichts, um das sie sich Sorgen machen oder über das sie nachdenken musste. Es klingelte an der Tür. Fluchend öffnete sie und sah einen lächelnden jungen Mann in dekorativer Aufmachung in Rot. Mit einer Verbeugung reichte er ihr ein Tablett in weißem Musselin, der in der Mitte mit einer roten Schleife versehen war. »Frohe Weihnachten«, sagte er, und dann: »Bon appetit.« Schon wandte er sich wieder zum Gehen, wobei er
Good King Wenceslas
pfiff.
Frances stellte das Tablett mitten auf den Tisch. Es war eine Karte dabei, die verkündete, dass es aus einem eleganten Restaurant kam, einem sehr anspruchsvollen, und als sie den Musselin abnahm, kam ein kleines Festmahl zum Vorschein, und noch eine Karte: »Alles Gute von Julia«.
Alles Gute.
Es war eindeutig Frances’ Schuld, dass Julia nicht sagen konnte:
Liebe Grüße
, aber egal, darüber würde sie sich heute keine Gedanken machen.
Das Arrangement sah so hübsch aus, dass sie es nicht zerstören wollte.
In einer weißen Porzellanschüssel war eine grüne Suppe, sehr kalt, mit gehobeltem Eis darauf, und ein prüfender Finger machte eine Mischung aus samtiger Öligkeit und Schärfe aus – was war das? Sauerampfer? Ein blauer Teller war mit Rüschen aus leuchtend grünem Kopfsalat dekoriert, der so tat, als wäre er Seegras, und darauf lagen Jakobsmuschelschalen und darin in Scheiben geschnittene Jakobsmuscheln mit Pilzen. Zwei Wachteln saßen nebeneinander auf einem Bett aus gedünstetem Sellerie. Auf einer beiliegenden Karte stand: »Bitte zehn Minuten erhitzen.« Ein kleiner Christmas Pudding aus Schokolade war mit Stechpalme dekoriert. Eine Schale enthielt Früchte, die Frances noch nie gekostet hatte und nicht einmal alle beim Namen kannte: Kapstachelbeere, Litschi, Passionsfrucht, Guave. Es gab eine Scheibe Stilton-Käse. Kleine Flaschen mit Champagner, Burgunder und Portwein flankierten das Festmahl. Heutzutage wäre dieser geistreiche kleine Festschmaus, der einem Weihnachtsessen huldigte und es zugleich
Weitere Kostenlose Bücher