Ein süßer Traum (German Edition)
er war über vierzig. Er war hier, weil er sich vor dem Vietnamkrieg drückte. Frances stellte sich auf einen Vortrag ein, aber Politik interessierte ihn nicht. Er sah in ihr eine Mitverschwörerin auf dem Feld der mystischen Erfahrung. »Aber ich habe das als Witz geschrieben«, protestierte sie, während er lächelte und sagte: »Ich weiß, dass Sie das nur so geschrieben haben, weil Sie mussten, Sie haben mit denen unter uns kommuniziert, die verstehen.«
Jake behauptete, alle möglichen besonderen Kräfte zu haben, zum Beispiel, Wolken auflösen zu können, indem er sie anstarrte, und tatsächlich, als sie am Fenster stand und in einen bewegten Himmel schaute, sah sie Wolken, die vorüberstürmten und sich zerstreuten. »Das ist ganz leicht«, sagte er, »sogar für Menschen mit wenig Bewusstsein.« Er verstehe die Sprache der Vögel, sagte er, und kommuniziere mit verwandten Geistern durch übersinnliche Wahrnehmung. Frances hätte einwenden können, dass sie eindeutig kein verwandter Geist sei, weil er sie habe anrufen müssen. Doch dann wurde diese teils unterhaltsame, teils ärgerliche Szene durch Sylvia beendet, die hereinkam, um etwas von Julia auszurichten. Aber was, sollte Frances nie erfahren. Sylvia trug eine Baumwolljacke mit Tierkreiszeichen darauf, die sie gekauft hatten, weil sie ihr passte, denn sie war so klein, dass es schwer fiel, Kleidung für sie zu finden: Die Jacke war aus der Kinderabteilung. Ihr Haar war rechts und links von ihrem Gesicht zu dünnen Zöpfen geflochten. Sein Lächeln und ihres trafen und vermischten sich, und sofort plauderte Sylvia mit ihrem neuen, freundlichen, warmen Freund, der sie über ihr Sonnenzeichen aufklärte, über das I Ging und über ihre Aura. Schon saß der liebenswürdige Amerikaner auf dem Fußboden und hantierte mit den Schafgarbenstängeln. Anschließend las er die Deutung, und Sylvia war so hingerissen, dass sie versprach, sich das Buch selbst zu besorgen. Mit einem Mal war sie erfüllt von Perspektiven und Möglichkeiten, mit denen sie nie gerechnet hätte, als wäre ihr Leben zuvor leer und bedeutungslos gewesen. Und dieses Mädchen, das ohne Julia kaum in der Lage gewesen war, das Haus zu verlassen, ging jetzt vertrauensvoll mit Jake aus Illinois, um erleuchtende Schriften zu kaufen. Sylvia kam für ihre Verhältnisse spät zurück; es war nach zehn, als sie die Treppe zu Julia hinaufstürmte, die sie mit offenen Armen empfing, um sie dann sinken zu lassen und sich bleischwer zu setzen. Verständnislos starrte sie das Mädchen an, das in einer so munteren Stimmung war, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Julia hörte Sylvias Geplapper zu und schwieg so bleiern und missbilligend, dass Sylvia innehielt.
»Sylvia, mein armes Kind«, sagte Julia, »wo hast du denn all diesen Unsinn her?«
»Aber, Julia, das ist kein Unsinn, wirklich nicht. Ich erkläre es dir, hör zu …«
»Es ist Unsinn.« Julia stand auf und wandte ihr den Rücken zu, um Kaffee zu machen. Sylvia jedoch erblickte einen kalten, abweisenden Rücken und fing an zu weinen. Sie sah es nicht, aber auch in Julias Augen standen Tränen, denn sie kämpfte mit sich, um nicht zu weinen. Dass dieses Kind,
ihr
Kind, sie so verraten konnte – das war es, was sie empfand. Zwischen ihnen beiden, der alten Frau und ihrer kleinen Liebe, dem Kind, an das sie ihr Herz rückhaltlos und zum ersten Mal in ihrem Leben verschenkt hatte – so empfand sie jetzt –, gab es nur noch Misstrauen und Schmerz.
»Aber, Julia; aber, Julia …« Julia drehte sich nicht um, und Sylvia rannte die Treppe hinunter, warf sich auf ihr Bett und weinte so laut, dass Andrew es hörte und zu ihr ging. Sie erzählte ihm ihre Geschichte, und er sagte: »Hör jetzt auf. Das hat keinen Zweck. Ich gehe hinauf zu Großmutter und rede mit ihr.«
Das tat er.
»Und wer ist dieser Mann? Warum hat Frances ihn hereingelassen?«
»Aber du sprichst, als wäre er ein Dieb oder ein Schwindler.«
»Ein Schwindler, das ist er. Er hat Sylvia mit seinen Schwindeleien um den Verstand gebracht.«
»Weißt du, Großmutter, solche Sachen, das Yoga und so, das ist einfach
in
– du führst ein ziemlich behütetes Leben, sonst wüsstest du das.« Er legte einen heiteren Ton an den Tag, doch dann sah er bestürzt das alte, traurige Gesicht. Er wusste ganz genau, was das wirkliche Problem war, beschloss aber, auf der Ebene der einfachen Begründungen zu verharren. »Sie stößt in der Schule sowieso auf solche Sachen, du kannst
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