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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Thompson
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in den Augen, als tue es ihr leid, Bryony so aufregt zu haben, aber auch, als könnte sie zu einem gewissen Teil nachempfinden, was Bryony durchmachte. Als färbte der Schmerz auf sie ab. Sie bückte sich und griff in die Tasche, zog etwas heraus und ging ans andere Ende des Raumes. Sie öffnete ein großes Fenster und setzte sichauf die Fensterbank. Bryony konnte nicht erkennen, was sie in der Hand hielt, bis sie es roch, weil sie durch die Tränen nur verschwommen sah. Der Geruch war nach einem Schnippen entstanden; sie begriff, dass Nora rauchte.
    Bryony ging zu ihr und setzte sich neben sie; nach einer halben Minute hatte sie ebenfalls eine Zigarette zwischen den Lippen. Sie wusste nicht, ob sie selbst sie dorthin gesteckt hatte oder nicht, aber sie war da und schmeckte wunderbar. Sie blinzelte heftig, und der Tränenschleier, der sie vorübergehend blind gemacht hatte, rann ihr auf die Wangen.
    Und da saßen sie wie unartige Schulmädchen und rauchten an einem Ort, von dem sie wussten, dass sie dort nicht rauchen sollten. Brachen die Regeln. Aber gemeinsam. Ein Pakt.
    Nora lehnte sich aus dem Fenster und blies den Rauch in den Regen, der außerhalb des warmen, trockenen Raumes niederging und wie ein Sturzbach die Rinnsteine entlangfloss.
    Sie gehörte zu den Menschen, die okay aussahen, wenn sie rauchten. Bryony dagegen hatte mit ihren ungeschickten Fingern und ihrem Zittern die Zigarette zweimal beinahe fallen gelassen und wirkte unbeholfen damit, so wie Männer mit einem Baby in den Armen.
    »Ich weiß, ich habe Freunde und Familie«, sagte Bryony. »Ich habe mich mit jemandem angefreundet, Adam heißt er, und er hat mir sehr geholfen   … Aber diese Wut   – so was habe ich noch nie zuvor gefühlt.« Sie wischte sich befangen mit der freien Hand über die Wangen, um das Make-up zu entfernen, das ihr von den Lidern vielleicht auf die blasse Haut getropft war.
    Nora blinzelte sie an. »Weißt du noch immer nicht, wer es getan hat, Bryony?«
    Sie weiß es, dachte Bryony   … sie merkte es genau. Jeder weiß es.
    Wie es schien, gab es zwischen ihnen keine verbotenen Fragen mehr, und insgeheim war Bryony froh darüber, dass man sie ausfragte.
    »Nein, ich weiß es nicht. Ich bin nicht mit der Vorstellung zurechtgekommen, zu wissen, wer es getan hat. Verstehst du das?«, fragte sie hoffnungsvoll, obwohl sie es besser wusste.
    »Doch, das verstehe ich gut.« Als Bryony sie überrascht anblickte, sah Nora weg. »Ich habe meine eigenen Erfahrungen mit so etwas; es ist aber Jahre her   … Meine Mutter wurde von einem betrunkenen Autofahrer getötet. Sie ging mit Einkäufen auf dem Bürgersteig, und dieser Kerl fuhr die Bordsteinkante rauf und überrollte sie. Es war unglaublich, so absurd, dass sie derart zur falschen Zeit am falschen Ort sein konnte, Bryony. Ich bin sehr, sehr lange völlig von der Rolle gewesen, und irgendwann habe ich erkannt, dass ich mein Leben nur dadurch wieder in den Griff bekommen konnte, indem ich diesem Menschen gegenübertrat und ihm verzieh.«
    Noras Worte konfrontierten Bryony mit einem Konzept, über das sie noch nie nachgedacht hatte. Verzeihen? Dem Mann verzeihen, der Max erschossen hatte? So wie sie es in Kirchen und Kinos immer predigten? Allein die Vorstellung verursachte ihr Übelkeit, so als betrüge sie Max, indem sie auch nur mit dem Gedanken spielte.
    Der automatische Lufterfrischer gab plötzlich rasch hintereinander zwei Sprühstöße von sich, und die beiden Frauen zuckten zusammen. In ihre Nasen drang ein herber Orangenduft, überlagert von Tabakrauch. Als sich Bryony nach dieser kurzen Ablenkung wieder Nora zuwandte, bemerkte sie ein neues kitzliges Gefühl in ihren Beinen: Es kam von der Entspannung.
    »Aber wie hast du das geschafft?«, fragte sie Nora. Bryony wollte unbedingt erfahren, was Nora vor Jahren durchgemacht hatte, aber in gewisser Weise war sie für Einzelheiten noch nicht bereit. Sie flößten ihr Angst ein.
    Nora lächelte sie an. »Ich fing damit an, zu einem Gruppentreffen in meinem Viertel zu gehen. Ich weiß nicht, ob es heute so was noch gibt. Das war keine Selbsthilfegruppe oder so was; es ging im Grunde nur um die Idee der Vergebung und das Bewältigen von traumatischen Lebensereignissen, nur ohne den ganzen geistigen Dünnschiss.« Sie lachte ein wenig in sich hinein.
    Bryony hatte noch nie eine so vulgäre Ausdrucksweise von ihr gehört.
    Sie musste an die alten Klischees denken: die Vorstellung von Gestalten in einem Raum, die auf

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