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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Thompson
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wollte sich Rita die Aufführung noch einmal ansehen.
    In letzter Zeit hatte sie nicht besonders viel von ihrer Tochter zu sehen bekommen. Rachel war flügge geworden. Sie verbrachte die meisten Nächte bei Richard, der näher am Londoner Zentrum wohnte, näher an der Action und näher an der Bühne.
    Rita hatte das Gefühl, ihrer Tochter am nächsten zu sein, wenn sie im Theater saß und ihr zusah. Meistens erzählte sie Rachel gar nicht, dass sie eine Aufführung besuchte, aber sie fragte sich bei jeder Pirouette und jedem Sprung, ob sie in den Augen ihrer Tochter nicht doch ein Blinzeln sah, mit dem sie das Publikum nach ihrer Mutter absuchte.
    Rachel kam jedes Wochenende nach Hause, suchte eilig Kleidung zusammen und gab andere zum Waschen; sie stürmte herein und hinaus und gönnte Rita nicht mehr als einen Kuss aufdie Wange. Das war aber okay   … es war nur natürlich. Innerlich hatte sich Rita längst darauf vorbereitet.
    Im Publikum herrschte das übliche Gemurmel, Füße schlurften in den Gängen, Handtaschen landeten leise auf dem dicken Teppich, Schlüssel fielen rasselnd zu Boden. Rita hörte, wie sich die Leute über die Preise an den Erfrischungsständen aufregten, dass sie nichts sehen könnten, weil vor ihnen ein Mann mit hoher Frisur saß, und wie sie darüber stritten, wo ihr Wagen stand. Manchmal hörte sie jemanden auch über Rachel reden. Die Leute zeigten auf ihren Namen im Programm und fuhren mit den Fingerspitzen das Bild der atemberaubenden jungen Frau mit dem Schwanenhals und den Beinen wie Zuckerstangen nach, und Rita fühlte sich innerlich gut, weil alles okay war. Wirklich, das war es.
    Die Lampen des Saals waren noch hell, als eine abgerissen aussehende Frau in schlecht zueinander passender Jeanshose und Jeanshemd sich den Weg durch die Reihe zum Sitz neben ihr bahnte. Sie sah so merkwürdig aus, dass Rita nicht anders konnte, als sie anzustarren, wie sie sich auf ihren Platz zu bewegte. Dann jedoch wurde ihr klar, wie unhöflich sie sich benahm, schlug ihr Programm auf und tat so, als würde sie lesen, obwohl sie den Text Wort für Wort auswendig kannte.
    Die Frau ließ sich schwerfällig auf dem Sitz neben ihr nieder. Sie brachte einen starken Zigarettengeruch mit sich, und Rita rümpfte die Nase. Die Frau wirkte merkwürdig, befangen, fehl am Platz. Sogar nervös. Sie gehörte nicht zum üblichen Publikum auf diesen Plätzen mit seinen Brillanten, Tulpenrockkleidern und bunten Blusen. Doch obwohl die Frau ungepflegt wirkte, war es offensichtlich, dass sie sich Mühe gegeben hatte, sich ein bisschen zurechtzumachen. Knapp über ihrem Ohr hatte sie sich einen kleinen funkelnden Clip ins Haar gesteckt, und sie trug verschmierten roten Lippenstift.
    Rita blickte nach links und rechts und fragte sich, ob sie sich vielleicht entschuldigen und einen anderen Platz suchen sollte, doch dann schalt sie sich, dass sie wie ein Snob dachte und über Menschen urteilte, ohne ein Recht dazu zu haben. In ihren Zwanzigern hatte sie selbst geraucht.
    Plötzlich klingelte ein Handy laut. Der durchdringende Klingelton war entsetzlich: die blecherne Aufnahme eines Top-Ten-Hits. »Verfluchte Scheiße«, sagte ihre Sitznachbarin leise, seufzte und suchte in ihrer Handtasche, bis sie das Handy gefunden hatte   – ein altes, verkratztes Nokia in einer Winnie-the-Pooh-Schutzhülle. »Was is?«, rief sie laut, und schon an diesem kurzen Satz war ihr Cockney-Akzent deutlich zu erkennen; der verschluckte Endlaut sagte alles. Und das ausgerechnet vor Rita, die so streng war, was Aussprache anging.
    Eine Frau in der Reihe vor ihnen drehte sich um und brachte mit einem lauten Schnalzen ihre Missbilligung über das Telefonat zum Ausdruck. Sie traf ein Blick, der eine ganze Armee hätte fällen können.
    »Hör mal, ich bin beim Ballett, ja? Kannst du sie ihr nicht einfach wechseln?«, brüllte die Frau, einen Finger in dem Ohr, an dem sie kein Handy hatte. Ihre Fingerspitzen waren so gelb wie ihre Zähne, die offenbar durch jahrelanges Rauchen einen fast kanarienvogelartigen Farbton angenommen hatten.
    Rita versuchte, sie nicht anzustarren, doch das war beinahe unmöglich.
    Die Frau stellte endlich das Handy auf stumm und warf es wieder in die Handtasche. »Ganz schön vornehmer Schuppen hier, was?«, fragte sie dann mit einem Blick auf Rita, Verletzlichkeit in den Augen.
    »Ja, das kann man sagen. Habe Sie schon einmal eine Ballettaufführung gesehen?«, fragte Rita.
    »Nein, hab ich nicht. Ich hab aber ’n paar

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