Ein Tag im Maerz
nahm die Sonnenbrille heraus. Sie setzte sie auf, gerade rechtzeitig, als die ersten Tränen ihr aus den Augen liefen. Ihre rosaroten Lippen hatte sie gespitzt, und sie hoben sich auffällig von ihrer blassen, sommersprossigen Haut ab.
Sharon neigte stirnrunzelnd den Kopf zur Seite und fragte sich, wie sie der armen jungen Frau helfen konnte, die sich so vollkommen in der Trauer verloren hatte.
»Ich mache es einfach immer wieder. Manchmal werde ich ohne Grund wütend. Ich fühle mich gut, wenn ich aufwache; na ja, halbwegs gut, und dann braucht nur jemand ein falsches Wort zu sagen, und das war’s: Ich drehe durch.« Bryony nahm einen Schluck von dem eiskalten Getränk und biss die Zähne zusammen, damit sie die Temperatur besser ertrug.
»Das verstehe ich, Mel. Total«, antwortete Sharon und versuchte die widerliche Schuld beiseitezuschieben, die ihr Herz umklammerte.
Bryony war noch immer unwohl, wenn sie Mel genannt wurde, aber sie durfte es sich nicht anmerken lassen. Sie musste dieser Mensch sein; sie musste ihre wahre Identität schützen. Sie wusste nicht einmal, wie sie auf diesen Namen gekommen war. Er passte nicht zu ihr. Er war an ihr nicht sinnvoll. Mels waren blond, jedenfalls den beiden Melanies zufolge, die Bryony kannte. Sie sahen gesund aus und erfüllt mit Hoffnung auf eine Zukunft, die nicht durch eine Tragödie verpfuscht wurde.
»Hast du noch einmal über den Besuch im Gefängnis nachgedacht?«, fragte Sharon. Sie hoffte, dass die Frage nicht mit einer Wuttirade beantwortet würde.
»Nachgedacht habe ich – ich denke viel darüber nach. Trotzdem könnte ich es noch nicht ertragen zu wissen, wer es war.«
»Ich sage es nur ungern, aber könnte es sein, dass es sich gerade dabei um das fehlende Puzzlestück handelt? Dass du dich aus irgendeinem Grund dieser Person stellen musst, damit du mit allem zurechtkommst?«, fragte Sharon und wusste im gleichen Moment, wie heuchlerisch sie klingen musste. Andererseits hatte sie ehrlich erkannt, dass es so war. Sie wusste nun, dass sie sich ihren Dämonen stellen musste, damit sie weitermachen konnte. Um den Menschen gegenübertreten zu können, die wussten, was geschehen war, und sie gemieden hatten. Ihr und ihrer Familie den Rücken zugekehrt hatten. Doch auch sie musste kämpfen.
Bryony nahm ihre Worte auf und wälzte sie im Kopf hin und her. Sie gab es nicht gern zu, aber vielleicht hatte Sharon recht. Bei noch mehr Cola light sprachen sie über den Gedanken, und aus Softdrinks wurde Wein, während der Tag in die Nacht überging. Rings um sie wurden Kerzen angezündet, doch obwohl der Abend sich senkte, trug Bryony weiter ihre Sonnenbrille.
Etwas später öffnete sich langsam die Tür des Pubs, und ein kalter Windhauch drang in den vorderen Bereich. Bryony blickte auf, und ein kalter Schauder lief ihr den Rücken hinunter. Der ältere Mann, der von seiner Kiste gepredigt hatte und jetzt fingerlose Handschuhe und eine Steppweste mit einem riesigen Riss auf der Brust trug, schlurfte mit gesenktem Kopf herein. Sein filziges Haar tanzte bei jeder Bewegung auf und ab.
Als er auf sie zukam, zog Bryony langsam die Sonnenbrille herunter. In ihrem Kopf spürte sie das warme Gefühl vom Wein. Er warf ein Stückchen schmutzig weißes Papier vor sie auf den Tisch und schlurfte genauso schnell, wie er gekommen war, wieder davon.
Bryony runzelte verdutzt die Stirn und sah ihm nach, wie er am Fenster des Pubs vorübereilte und außer Sicht verschwand.
Sharon biss sich neugierig in die Unterlippe. »Was ist denn das?«
Bryony nahm den Zettel auf und spürte seine dicke, körnige Struktur mit den Fingerspitzen. Er war offenbar aus der Speisekarte eines teuren Restaurants oder etwas Ähnlichem gerissen worden.
Sie öffnete ihn und las zwei einfache Zeilen in der Schrift eines Exzentrikers: scharfe ausladende Schleifen in schwarzer Tinte mit vielen Klecksen.
Es tut mir leid.
Bitte verzeih mir.
37
Am Himmel zogen sich Wolken zusammen.
Sonntag, 13. September 2009
Hackney, Nordost-London
10 Uhr
Rachel erwachte vom Lärm eines Streits in der Wohnung über ihr. An einem Sonntagmorgen. An Gottes Tag der Ruhe, wenn das Land zum Geruch von gebratenem Speck aufstehen sollte, zu Orangensaft und, einige wenigstens, dem Klang von Kirchenglocken, prügelten sich die Bewohner des sechzehnten Stockwerks dieses Wohnturms in Hackney gegenseitig zu Boden.
Zuerst glaubte sie, sie träume das laute Poltern aus der Etage über ihr, auf das gedämpfte, wütende
Weitere Kostenlose Bücher