Ein Tag im Maerz
entsetzt und panisch, aber es war zu spät. Sie hatte ihm das Päckchen unter dem Tisch hindurch auf den Schoß geschoben. Und man hatte sie beobachtet.
»Kulis! Nur beschissene Kulis!«
Der Gefängniswärter, ein großer dünner Mann mit einem Mundgeruch, der einen Baum mit einem Hauch von der Rinde befreien konnte, schritt in dem kleinen, dunklen Büro auf und ab und kochte vor Zorn. Auf dem Schreibtisch lagen fünf Kulis in unterschiedlichen Farben ordentlich nebeneinander. Blau. Grün. Rot. Orange. Gelb.
Keon blickte in seinen Schoß. Am liebsten hätte er laut gelacht, aber er versuchte mit aller Kraft, ernst zu bleiben.
»Du kennst die Regeln, Keon. Dir ist das alles schon zigmal gesagt worden. Du darfst nichts annehmen, was dir bei einem Besuch übergeben wird, und schon gar nicht dafür sorgen, dass dir jemand etwas mitbringt. Du hättest fast eine Sicherheitskatastrophe ausgelöst, du Idiot.«
»Das waren nur Kugelschreiber, Sir. Und ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, dass sie sie mir mitbringen würde.«
»Bestimmungen sind Bestimmungen«, sagte der Wächter. Er setzte sich an den Schreibtisch und blickte Keon über die Platte hinweg an. »Zu Ihrem Unglück, Mr. Hendry, müssen Sie den Preis dafür zahlen.«
Keon malte sich Sonderschichten beim Toilettenputzen aus und erschauerte innerlich.
»Alle zukünftigen Besuche nur mit Trennscheibe.«
Keon rollte mit den Augen und zuckte die Achseln.
Als Keon in den Flügel zurückkam, spielte Eddie in der Ecke des Raumes mit seinen Murmeln. Er sah aus wie ein Kind.
»Wie lief es denn?«, fragte Eddie und schob sich ein bisschen zur Seite, damit Keon sich neben ihn setzen konnte.
»Scheiß Trennscheibe«, sagte Keon und stützte den Kopf in die Hände.
»Ach, so ein Mist.« Eddie sammelte die Murmeln auf und ließ sie wieder in den kleinen Beutel gleiten.
»Na ja, so viele Besucher bekomme ich ja nicht …«
Der Vorfall sprach sich in Windeseile herum. Die Leute flüsterten und beobachteten das ungewöhnliche Paar, das in der Ecke kauerte. Das erste Gerücht hatte etwas von Kokain wissen wollen; bei der nächsten Runde war es schon auf Gras heruntergestuft. Als die Wahrheit ans Licht kam, wirkten die Mithäftlinge ziemlich enttäuscht.
Die leere Hülle eines defekten Kulis piff durch die Luft und traf Keon gegen den Kopf. Er zuckte zusammen, als sie von seinem Schädel abprallte, und mit einem scharfen Klappern schlitterte sie über den Boden.
»Au! Verdammte Scheiße!«, knurrte Keon.
Eddie begann zu lachen. Keon sah ihn verärgert an.
»Oh, tut mir leid, Kumpel, es ist nur echt lustig«, sagte Eddie prustend.
Auch Keon erkannte die komische Seite. Er erinnerte sich noch an den Ausdruck grenzenlosen Entsetzens in Chantals Gesicht, als zwei Wärter sie in die Mitte nahmen und aus dem Besuchsraum führten. Schließlich verebbte ihr Gelächter, und Keon bemerkte plötzlich, wie traurig Eddie aussah. Wenn er mit Murmeln spielte, war es immer ein schlechtes Zeichen.
»Hast du einen miesen Tag?«, fragte Keon.
»Ach wo, alles ist gut. Ich bin nur was müde, das ist alles«, sagte Eddie. »He, sie zeigen heute Nacht ’nen Film – willst du ihn sehen?«
»Ja, klar, Mann, das wäre toll«, sagte Keon mit breitem Grinsen. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl zu wissen, wohin er gehörte.
40
»Das klappt nicht mit uns beiden.«
Mittwoch, 30. September 2009
HSBC , Hackney, Nordost-London
10 Uhr
Lisa stand in der Schlange vor dem Kassenschalter und zitterte bei dem Gedanken, dass sie vermutlich nicht genug Geld auf dem Konto hatte, um die überfällige Gasrechnung zu bezahlen.
£ 82,46. LETZTE MAHNUNG.
Sie war schon seit einiger Zeit klamm, aber in letzter Zeit wurde es immer schlimmer, und jedes Mal, wenn sie die Bank betrat, fürchtete sie sich vor dem, was vielleicht aufgedeckt werden würde. Lisa musterte die anderen Leute in der Schlange und fragte sich, ob sie genauso kämpften wie sie. Wie kamen andere denn zurecht? War sie ein schlechter Mensch, weil sie in diese Schwierigkeiten geraten war? Wie hatten sich überhaupt so viele Schulden anhäufen können? Die Zahl ging ihr nicht aus dem Kopf. £ 15 000 … £ 15 000 … Fünfzehntausend Pfund, die sie irgendwie zurückzahlen musste.
So viel konnte sie im Leben nicht zurückzahlen.
Sie versuchte über die Runden zu kommen. Sie leistete sich keine tollen Urlaubsreisen und keine teure Kleidung; die Schuld war im Laufe der Jahre aus einem Darlehen angewachsen, das sie
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