Ein Tag im Maerz
für Rachels Vater vor dessen Tod aufgenommen hatte. Was sie brauchte, kaufte sie auf Kredit: Lebensmittel, das neue Bettchen für Claire, nachdem das alte zusammengebrochen war,Töpfe und Pfannen, bescheidene Geburtstagsgeschenke. Doch Lisa hatte den Kopf in den Sand gesteckt und Raten versäumt. Die Zinsen waren in die Höhe geschossen, die Gesamtschuld war angestiegen, doch ihr Lohn hatte sich nicht erhöht, im Gegenteil: Er war sehr, sehr niedrig geblieben.
Die Rechnung … die Gasrechnung … was sollte sie tun? Was konnte sie tun? Sie hatte tief durchgeatmet und beschlossen, wenigstens zu versuchen, sie zu begleichen, und zu Gott zu beten, dass es durchging. Wenn nicht, konnte sie sich um einen Termin bei einem Schuldnerberater bemühen und einen mageren Jüngling mit Aknepickeln im zerknitterten Anzug um eine Kreditaufstockung oder eine höhere Dispogrenze anbetteln. Egal was, Hauptsache, es ging irgendwie weiter. Sie malte sich aus, wie sie noch mehr flehentliche Anrufe machte … »Geben Sie mir nur eine Woche … bitte.«
Lisa starrte den Mann an, der in der Schlange vor ihr stand. Er war groß und gut gekleidet. Sie stierte auf seinen Hinterkopf und fragte sich, wie finanzielle Sicherheit sich anfühlen mochte. Immer auszukommen. Nicht nachts mit grimmig leerem Magen dazuliegen und sich den Kopf zu zermartern, wie man das nächste Jahr überstehen sollte.
Sie sah auf ihren cremefarbenen Mantel, den sie in einem Wohlfahrtsladen gekauft hatte. Er sollte trockengereinigt werden, aber selbst dafür bekam sie das Geld nicht zusammen. Sie wollte ihn sowieso loswerden, denn er erinnerte sie nun immer an jenen Abend. Donnerstag, den 12. März.
Bald leuchtete ein kleiner Bildschirm, der an der Wand verschraubt war, hellrot auf, das Zeichen, das ein Kundenbetreuer auf sie wartete.
Lisas Magen krampfte sich zusammen, als sie langsam auf den Platz zuging. Eine hübsche junge Frau saß dort. Sie trugein elegantes Kostüm, ihr Make-up war makellos. Als sie breit lächelte, offenbarte sie ein glänzendes weißes Gebiss.
Alles wirkte so frisch und neu. Wenn Lisa in den Spiegel blickte, sah sie Erschöpfung; graue faltige Haut hing ihr schlaff von den Knochen. Trotzdem musste sie weitermachen, jeden Tag verzweifelt Wasser treten, um nicht auf Grund zu sinken.
»Hallo, Madam. Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Kundenberaterin fröhlich und beugte sich leicht vor. Sie hatte eine hohe Stimme und sang beinahe wie ein Vogel. Ihre Nägel waren manikürt.
»Ja, hallo. Ich würde gern diese Rechnung bezahlen«, sagte Lisa mit gespieltem Selbstvertrauen. Sie schob die Rechnung und ihre Karte durch den Schlitz. Tu überrascht, beschwor sie sich und sah die Zahlen vor ihren Augen. Sie würde definitiv ihr Dispositionslimit überschreiten; sie war mit ihrem Konto ohnehin schon 1000 Pfund in den Miesen. Auf keinen Fall konnte die Überweisung durchgehen, es sei denn, sie hatte irgendeine Erstattung erhalten, von der sie nichts ahnte.
Das Rauchen. Vielleicht liegt es am Rauchen, dachte sie und würgte an ihrem Schuldgefühl. Der Preis für eine Schachtel Zigaretten war in den letzten Jahren derart gestiegen. Vielleicht hatte sie nur der Zigarettenpreis in diesen Schlamassel gezogen; dann war es allein ihre Schuld. Ihr brannten die Tränen in den Augen.
Die Kundenberaterin sah sich die Rechnung an und gab Daten in ihren Computer ein. Zwei Minuten stand Lisa schweigend da, starrte auf den Computer und versuchte ihn mental auf Anteilnahme zu programmieren.
»Gut. Das wäre erledigt, Madam«, sagte die Kundenberaterin und lächelte mit funkelnden Augen, dann schob sie die Unterlagen durch den Schlitz zurück.
Lisa riss die Augen auf. Ihr Herz drohte stehenzubleiben. »Wirklich?«, fragte sie.
»Ja, natürlich.« Die junge Frau sah sie verwirrt an.
»Ah, gut, dann vielen Dank«, sagte Lisa, stopfte alles in ihre abgegriffene Handtasche und sah zu, dass sie aus der Bank herauskam. Sie hielt den Kopf gesenkt und kam sich vor, als hätte sie etwas Schlimmes getan. Vielleicht irgendwie das System betrogen.
Na, so eine Erleichterung, dachte sie. Doch sie war noch nicht weit von der Bank weg, als sie mitten im Schritt innehielt. Du solltest das überprüfen, riet ihr der Instinkt. Lisa drehte sich um und ging zu dem Geldautomaten außen vor der Bank. Regen fiel vom Himmel, und sie zog die Kapuze ihres Mantels über und band die Schnüre unter dem Kinn zusammen, damit ihr Haar geschützt war. Sie hörte die
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