Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Thompson
Vom Netzwerk:
wie sie klangen. Keon mochte Eddie sehr, und er war ihm eine Stütze. Er war im ganzen Gefängnis sein einziger Freund, vielleicht sogar auf der Welt.
    »Warum liest du nicht das Buch?«, fragte Keon und schob es über den Tisch zu Eddie. Er gab ihm eine zweite Chance, obwohl er begonnen hatte, es zu zerstören.
    »Hab ich schon. Fünfmal.«
    »Ach so   … okay.« Dann herrschte Schweigen, das nur gelegentlich vom Lachen und Gebrüll ihrer Mitgefangenen unterbrochen wurde. Keon hatte sich angewöhnt, so etwas auszublenden, und ließ sich davon nicht mehr allzu sehr aus der Ruhe bringen.
    Er hatte Versuche begonnen, sich nachts mit Max zu unterhalten, und das war schwierig, weil er nicht sicher sein konnte, dass Max auch zuhören konnte. Und selbst wenn Max zuhören konnte, weshalb um alles in der Welt sollte er Keon zuhören?Doch Keon hatte sich dennoch angewöhnt, Max immer wieder zu versichern, wie leid es ihm tat; doch am Ende kam er sich dabei immer nur dumm vor. Deshalb hatte er Max um ein Zeichen gebeten, dass er ihn hören konnte. Dass er zuhörte. Keon hatte sogar einmal ein Stück Papier auf die Bettkante gelegt und Max gebeten, es zu bewegen oder von der Kante zu stoßen. Es war jedoch einfach liegen geblieben. Alles, was Keon je vor sich sah, war Max’ eingefallenes, blutverschmiertes Gesicht. Dabei zog sich ihm jedes Mal der Magen zusammen.
    Keon wollte Max bitten, dass er Bryony dazu brachte, ihm zu vergeben. Wenn sie es nur versuchen würde. Er schilderte Max, was er tun wollte, wenn er entlassen wurde, auch wenn bis dahin noch eine lange Zeit war. Seine ganze Lektüre verfolgte ein bestimmtes Ziel: Keon wollte versuchen, einige Dinge grundlegend zu ändern. An den Wurzeln würde er beginnen, damit neue Einstellungen wachsen konnten. Auf diese Weise wollte er Leben retten. Er hatte vor, an Schulen zu gehen, mit den Jugendlichen zu reden und ihnen von seinem schrecklichen Fehler zu erzählen   – andere abzuhalten, etwas Ähnliches zu tun. Nur wusste er noch gar nicht, wie er es angehen sollte.
    Keon kam es vor, als kenne er Max mittlerweile genau. Mit dem freundlichen Gesicht, das in der Zeitung abgedruckt gewesen war, musste er ein Mensch gewesen sein, der sich gut auszudrücken verstand und von vielen Menschen geschätzt und von noch mehr vermisst wurde. Keon hatte versucht, mit dem Mann zu sprechen, als den er sich Max zu Lebzeiten vorstellte, doch das hatte zu wehgetan. Er hatte sich sofort in einem Buch verkriechen und über die Empfindungen anderer Menschen lesen müssen, damit er Abstand zu seinen eigenen Gefühlen gewann.
    Noch einen Brief wollte er schreiben, dann würde er es sein lassen. Danach würde er Bryony für immer in Ruhe lassen.
    »Kumpel?«
    »Ja?«
    »Hast du einen Kuli?«
    »Nein, tut mir leid«, erwiderte Eddie und schlug das Buch wieder auf Seite 1 auf.
    »Also, das ist schon komisch   …«, Chantal trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und starrte Keon in die Augen.
    Keon mochte es nicht und blickte auf die glänzende graue Tischplatte. Mit dem Finger fuhr er einige Rillen nach, die in den Plastiküberzug geschnitten waren.
    Chantal trug ihr rotes Haar in einem Zopf auf einer Seite, der um den Nacken an das Schlüsselbein der anderen reichte und dann mit den verführerischen Locken verschmolz. Ihre grünen Augen erschienen ihm viel strahlender als bei ihrem letzten Treffen. Ihr Parfüm roch anders. Sie hatte Babyspeck verloren. Sie wurde erwachsen und stolperte dabei über Secondhand-Boutiquen.
    Sie war seine erste Besucherin, seit man ihn zu den verhasstesten Subjekten der Gesellschaft gesperrt hatte.
    In einem Brief an seine Freundin hatte Keon alles geschildert: die Arbeit, die sie am Vormittag und Nachmittag leisten mussten, das frühe Ausschalten der Lampen, das fettige, kohlehydratreiche Essen, das immer mit einem Rand aus hellem orangefarbenen Öl kam, die Kämpfe um die Kugelschreiber, und dass weder seine Mutter noch seine Schwester ihn bisher besucht hatten.
    Chantal hatte ein paar Straßen weiter gewohnt, aber im Alter von sechzehn Jahren war sie nach Süd-London gezogen, als ihre Mutter an einer dortigen Schule eine Rektorinnenstelle antrat. Keon war damals am Boden zerstört gewesen, denn er hatte immer eine Schwäche für Chantal gehabt. Sie war ein gutes Mädchen und hatte ihn immer vor seinen Freunden gewarnt. Es schien ihm immer, als wäre sie zu gut für ihn, und wenn er sie sich jetzt so anschaute, kam sie ihm so viel lebhafter vor als früher. Er

Weitere Kostenlose Bücher