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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Thompson
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erzählte sie schlimme Geschichten zur Warnung. Nimmt alles zu ernst, dachte sie.
    »Was denn?«, fragte Rachel. Sie blickte Richard an und verdrehte die Augen. Doch das Herz pochte ihr nach wie vor an den Hals wegen ihres Fundes, von dem sie noch gar nicht wusste, wie sie ihn verdauen sollte.
    »Ein junger, na ja, ziemlich junger Mann ist gerade vor einer U-Bahn-Station in Nord-London erschossen worden   … Sie sagen, er ist wahrscheinlich das Opfer einer Verwechslung bei einem Bandenanschlag«, sagte Rita. Gegen Ende des Satzes wurde ihre Stimme immer leiser.
    Rachel sagte nichts, sondern starrte auf ihre Füße. Sie konnte kaum verstehen, was ihre Mutter sagte. Nichts ergab mehr einen Sinn.
    »Da sieht man es mal wieder, oder? Man kann nie wissen, wann das Schicksal zuschlägt   … Seid vorsichtig, ihr beiden, wenn ihr nachts unterwegs seid, ja?«, bat Rita, dann seufzte sie laut und kehrte in die Küche zurück.

6
    Ich möchte meinen Jungen sehen.

    Freitag, 13. März 2009
    Fairgrove Estate, Nord-London
    9 Uhr
    Ihre sämtlichen Tage auf dieser grünen Erde hatten Tynice Hendry nicht auf die Nacht vorbereiten können, in der die Polizei anrief und ihr mitteilte, ihr Sohn sei unter Mordverdacht verhaftet worden.
    Sie glaubte es nicht. Kein Wort davon. Sie war der festen Überzeugung, es handele sich um eine Verwechslung. Tynice saß auf ihrem Sofa, den Kopf in die Hände gestützt, und zitterte. Noch in der Nacht waren Polizeibeamte in ihre Wohnung gekommen und hatten sie durchsucht. Keons Zimmer hatten sie komplett auf den Kopf gestellt. Nachdem das Chaos vorüber war, lagen Zeitschriften aufgeschlagen am Boden, und die Türen seines Kleiderschranks standen offen wie vor Schock aufgerissene Münder.
    Die Beamten hatten ihr Fragen gestellt. Stundenlang. Ob er schon früher Schwierigkeiten gehabt hätte? Leide er unter Geistesstörungen? Wo er tagsüber gewesen sei? Tynice hatte auf alles eine klare und einfache Antwort, oder wenigstens glaubte sie das.
    Farbige Jungen bekamen immer die Schuld an solchen Dingen, darüber hatte sie sich oft beklagt, wenn sie sich auf eine Tasse Tee mit einer Nachbarin zusammensetzte. In der ganzen Siedlung stöhnten die Frauen, dass ihre Söhne wegen aller möglichen Vorwürfe andauernd in die Polizeiwachen gezerrt wurden: wegen Ladendiebstählen, Bandenkämpfen, was auch immer. In Fairgrove Estate sprach sich so etwas schnell herum. Erst vor ein paar Monaten war einer von Talias Jungen wegen Verdacht auf schwere Körperverletzung festgenommen worden. Bald stellte sich heraus, dass er nichts damit zu tun hatte. Die Polizisten hatten lediglich einen jungen Farbigen auf der Straße gesehen und ihn mitgenommen. Nach ein paar Stunden mussten sie ihn wieder gehen lassen. Tynice vermutete, dass sie auf diese Weise nur ihre Verhaftungsquoten aufbesserten, doch diese Vorkommnisse, von denen jeder wusste, nährten den tief verwurzelten Groll in der Gemeinde.
    Deswegen war sich Tynice so sicher, dass Keon zu Unrecht festgenommen worden war. Alles andere war undenkbar. So sicher war sie sich, dass sie beschlossen hatte, bis zum Morgen zu warten, ehe sie Keon abholte. Sonst hätte sie ihre Tochter mitten in der Nacht allein lassen müssen. Rebecca war erst dreizehn. Reb war völlig verschreckt, obwohl Tynice ihr immer wieder versichert hatte, dass alles nur ein Irrtum war.
    Dass jemand erschossen worden war, wusste Tynice. Sie hatte es auf der Internetseite der Lokalzeitung gelesen, kaum dass ihr mitgeteilt worden war, was Keon vorgeworfen wurde. Doch ihr Sohn konnte auf gar keinen Fall in diese Tragödie verwickelt sein.
    »Okay, okay, bleib ganz ruhig«, sagte sie zu sich, wiegte sich vor und zurück und strich über ihren Arm, wie ihre Mutter es immer getan hatte, als sie noch ein Kind war. In dieser Situation vermisste sie ihre Mutter so sehr wie schon lange nicht mehr. Elsie Lock war vor fünf Jahren an einem Herzanfall gestorben, und Tynice hatte um sie geweint, bis sie Angst bekam, ihr könnten die Tränen ausgehen. Erst in letzter Zeit konnte sie ein Bildihrer Mutter ansehen und lächeln und ehrlich sagen, dass sie es akzeptierte, wie es war.
    Tynice überlegte, wie ihre Mutter mit der Situation umgegangen wäre. Sie wäre vermutlich sofort in ihrem grünen Nissan Micra vorbeigekommen, in einem ihrer üblichen geblümten Kleider, dann hätte sie im Haus das Kommando übernommen, mit einer Selbstgedrehten im Mundwinkel ein riesiges Abendessen vorbereitet und sich um Reb gekümmert;

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