Ein Tag im Maerz
berührten ihre Füße den Boden.
»Na, ich fand das einfach fantastisch, Süße«, sagte er, zog sie an sich und küsste sie auf die Nase. Richard war kein Tänzer; seine Versuche in den Nachtclubs konnte man getrost als katastrophal bezeichnen: betrunkenes ungelenkes Zucken, das in einem Stroboskop gerade noch sichtbar war. Aber als RachelsFreund hatte er gelernt, sie zu heben, und sie konnte mit ihm aus dem Stegreif üben. Insgeheim war er darauf stolz.
Dadurch bekam er Oberwasser.
Sie riss sich in die Wirklichkeit zurück und löste sich von ihm. »Ich muss meinen Führerschein suchen; warte mal kurz.«
»Muss das denn jetzt sein?«, fragte er. Er hatte ihren süßen Friedensschluss genossen und zog sie, die Hände an ihrer schmalen Taille, wieder zu sich zurück.
»Ja, ich muss ihn morgen an die Zulassungsstelle schicken. Mum nervt mich schon die ganze Woche damit – das dauert nur eine Minute.« Sie entwand sich seinem Griff und verließ das Zimmer.
Normalerweise hätte Rachel ihre Mutter gebeten, sich darum zu kümmern, doch sie wollte sie heute nicht mehr damit behelligen. Als sie in den dunklen stillen Korridor kam, hörte sie von unten den Fernseher murmeln. Im Schlafzimmer ihrer Eltern brannte kein Licht. Rachel blieb kurz stehen. Sie sollte fragen … das sollte sie wirklich … Ich schaffe das schon, dachte sie und ging ins Schlafzimmer. Sie musste sie jetzt wirklich nicht stören.
Eine kleine Art-déco-Lampe stand zwischen Bücherstapeln auf einem Schreibtisch. Rachel schaltete sie ein, und sie warf einen schwachen Schein. Er reichte nicht aus. In dem Dämmerlicht war kaum etwas zu erkennen. Sie beschloss, zuerst unter dem Bett zu suchen. Langsam gewöhnten sich Rachels Augen an die Dunkelheit. Sie sah nun alles Mögliche: Versandhauskataloge, alte Kontenbücher, einen verdächtig aussehenden Staubwedel aus Leder. Hmmm …
Sie tastete mit ihren zierlichen Händen herum, aber sie fand nichts Vielversprechendes. Rachel wollte es gerade an der alten Kommode versuchen, als sie eine große Kassette ertastete, bei der ihr sofort einfiel, dass ihr Vater darin wichtige Papiere aufbewahrte. Aus irgendeinem Grund ließen ihre Eltern sie niemalsin die Nähe und holten stets selbst dort heraus, was sie benötigten. Da muss er sein, dachte sie, zog die Kassette unter dem Bett hervor und blies eine dünne Staubschicht fort. Sie bewegte sich vorsichtig, damit sie nicht das schwache Licht verdeckte, und als sie die Kassette öffnete, sah sie den dicken Ordner mit Dokumenten, die säuberlich und straff organisiert geordnet waren. Trennblätter ragten in alphabetischer Reihenfolge heraus, und sie blätterte rasch zu R. Dort war ein rotes Etikett. Mit schwarzem Kuli stand RACHEL darauf. Hier muss es sein, dachte sie in stillem Triumph.
Mit den Fingern trennte sie die Papierblöcke, bis sie ihre Papiere in der Hand hielt. Briefe vom The Royal Ballet. Kontoauszüge. Ein Sparbuch. Von einem Führerschein keine Spur, also suchte sie weiter. Doch ehe sie ihn fand, entdeckte sie einen alten, zerknüllten Zettel. Er fiel auf, weil er im Vergleich zu den anderen Unterlagen so alt wirkte. Ihr Name stand oben, darunter die Namen ihrer Eltern. Meine Geburtsurkunde, dachte sie. Rachel erhob sich und ging zur Lampe, damit sie das Dokument richtig erkennen konnte. Sie hatte es noch nie gesehen.
Doch ganz oben stand ein Wort, das nicht stimmen konnte. Immer wieder zuckte ihr Blick dorthin. Das musste doch ein Scherz sein? Eines dieser falschen Formulare, die man sich drucken lassen konnte, um jemandem einen Streich zu spielen? Aber dazu wirkte es zu echt … zu alt.
Ihr Blick huschte noch ein paar Mal hin und her. Hinunter zu ihrem Namen. Dem Namen ihrer Mutter. Dem Namen ihres Vaters. Das konnte doch nicht … Aber, ja, ganz oben auf dem Schriftstück war diese Zeile: »Adoptionsurkunde«.
Adoption.
»Rachel?«, hörte sie ihre Mutter von unten rufen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, wisperte Rachel, schob die Papiere wieder in den Ordner und legte alles dorthin zurück, wo sie es gefunden hatte.
»Rachel!«, rief Rita wieder.
Auf Zehenspitzen schlich sich Rachel aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern und stand im Korridor. Sie zitterte.
»Ja, Mum – was ist?«, schrie sie die Treppe hinunter.
»In den Nachrichten ist eine furchtbar traurige Geschichte«, rief Rita. Richard streckte den Kopf aus der Tür von Rachels Zimmer. Rachel seufzte verärgert. Ständig machte ihre Mutter so etwas. Ständig
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