Ein Tag im Maerz
hätte ihre rechte Hand dafür gegeben, jetzt das leise Klopfen an der Tür zu hören und Max vor sich zu sehen, einen Strauß Rosen im Arm.
Für einen Moment sah Kate aus wie damals die anderen Verkäuferinnen im Laden. So als würde sie gleich dahinschmelzen. »Und ich nehme an, er wohnte hier mit Ihnen zusammen?«, fragte sie und schrieb sich wieder etwas auf; ihre Kurzschrift erinnerte an einen Code von Außerirdischen.
»Ja, das stimmt.« Plötzlich bekam Bryony kein weiteres Wort heraus.
»Und wie war er als Mensch?«, fragte Kate und blickte Bryony wieder an. Diesmal hatte sie eine Augenbraue hochgezogen, und Bryony entdeckte dort ein dezentes silbernes Piercing.
Bryony kam es vor, als verwandelte sich ihr Bauch in Gelee, und sie musste mehrmals durchatmen. Wie sollte sie Max mit Worten beschreiben? Wenn sie an sein Gesicht dachte, verschwamm alles, und manchmal musste sie sich mit alten Fotos erinnern, denn irgendwann während des Traumas war ihre Erinnerung an sein Aussehen ein wenig durcheinandergeraten.
Bryony öffnete den Mund und ließ heraus, was herauswollte. »Nun, wenn Sie sich den nettesten, warmherzigsten, schönsten Menschen auf Erden vorstellen und das immer weiter vervielfältigen, dann haben Sie Max. Er war intelligent, sehr lustig und unglaublich ungeschickt, und er hat mich glücklicher gemacht, als ich es je war«, sagte sie und spürte, wie ihr dabei neue Tränen die Wangen hinunterliefen.
Kate griff in ihre Handtasche, nahm ein rosarotes Papiertaschentuch heraus und reichte es Bryony.
Sie hielt es sich vors Gesicht und spürte, wie der Zellstoff unter ihren Fingerspitzen weich wurde, wo er ihre Schmerzenstränen aufsog.
Sie bekam immer mehr Fragen gestellt: welche Schule Max besucht habe, welche Ausbildung er nach der Schule machte, wo seine Eltern lebten, welche Hobbys er hatte.
»Und haben Sie vielleicht eine Botschaft? Haben Sie etwas zu sagen, mit dem Sie junge Menschen erreichen wollen, oder vielleicht andere, die unter solch tragischen Umständen jemanden verloren haben?«, fragte Kate am Ende und fuhr sich mit der Kappe ihres Kulis über die Oberlippe.
Das fiel ihr schwer.
In einer Zeitung konnte sie nicht schreiben lassen, dass sie Max’ Mörder am liebsten mit bloßen Händen in Stücke gerissen hätte; dass er nicht nur Max getötet hatte, sondern auch einen großen Teil von ihr und von Max’ Eltern und allen seinen Freunden. Dass sie alle ein bisschen weniger lebendig waren als vorher. Dass das Leben so kostbar war, dass man jeden einzelnen Tag als Geschenk betrachten sollte. Und dass Geld und Kleidung und Karriere und der ganze andere Mist wirklich völlig unbedeutend werden, wenn man jemanden verliert, den man liebt.
Dass sie Angst hatte, weil in ihrem Leben ein Loch war undsie nicht wusste, ob es je wieder gefüllt würde. Genauso wie bei dem außerordentlich schmerzhaften, pistolenkugelgroßen Loch in ihrem Herzen.
»Ich würde einfach sagen, dass an dem Tag mehr als nur ein Mensch gestorben ist … dass ich nicht sicher bin, wie ich ohne Max weiterleben soll, aber irgendwie werde ich es tun müssen. Und dass mir der … Verantwortliche wirklich sehr leidtut, denn ich werde ihm niemals verzeihen können.«
Kate machte große Augen, als sie alles aufgeschrieben hatte, und Bryony begriff, wie finster sie klang. Doch sie begriff in diesem Augenblick, weshalb sie nicht wissen wollte, wer Max ermordet hatte; nicht jetzt, so früh im Trauerprozess. Weshalb sie sich vor seiner Identität fürchtete.
Weil sie Angst hatte, jemanden zu kennen, bei dem sie wusste, dass sie ihm niemals vergeben würde.
Kate biss sich leicht auf die Lippe. »Sind Sie sicher, dass Sie das so sagen wollen?«, fragte sie.
»Ja. Bitte zitieren Sie mich wörtlich«, entgegnete Bryony und empfand eine merkwürdige Genugtuung und die Hoffnung, dass das abscheuliche Ungeheuer, Max’ Mörder, ihre Worte las und innerlich einen dunklen Grauton annahm.
»Haben Sie irgendwelche Fotos? Vielleicht ein schönes Bild von sich und Max, das wir abdrucken können?«, wechselte Kate das Thema.
»Ja, natürlich«, sagte Bryony, beugte sich vor und nahm ein großes schwarzes Fotoalbum von der Ablage unter dem Couchtisch. Seit Tagen starrte sie diese Fotos in stillem Unglauben immer wieder an und fragte sich, wie jemand am einen Tag noch da sein und am nächsten verschwunden sein konnte.
Sie nahm ein Foto, auf dem Max allein zu sehen war und das bei einer Weihnachtsfeier aufgenommen worden war. Er
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