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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Thompson
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nahm spürbar zu, während sie in der Tasche wühlte, und sie fragte sich, ob sie es geschafft hatte, die Karte zu Hause zu vergessen. Schließlich gab sie auf, und dann erinnerte sie sich, dass sie sich die Karte ins Portemonnaie gesteckt hatte.
    Die Adresse war nur fünf Minuten zu Fuß von der Bushaltestelle entfernt, aber es war ein schwieriger Weg. Rachel war so nervös, dass ihre Beine zitterten. Schon bald erreichte sie Chestnut Court. Als sie die Adresse zum ersten Mal las, hatte sie sich eine hübsche Wohnanlage mit hohen grünen Bäumen, Pferden und einem Haufen kleiner Mädchen vorgestellt, die lächelnd Gänseblümchenkränze wanden.
    Dieser Vorstellung entsprach das Haus in keiner Weise.
    Rachel stand vor dem Wohnblock, blickte hoch und fühlte sich klein. Das Gebäude war riesig und sah aus, als hätte es Hunderte winzig kleine Fenster, die zu Hunderten winzig kleiner Wohnungen gehörten. Das war eine völlig andere Welt als die, in der sie lebte. Einige Fenster waren eingeworfen, und an improvisierten Wäscheleinen hingen Kleidungsstücke, soschlaff, als hätte man sie dort wochenlang in Wind und Regen sich selbst überlassen. Weiße Höschen mit Grauschleier. BHs, an denen die Formbügel fehlten.
    Sie hörte wenigstens zehn verschiedene Babys in zehn verschiedenen Zimmern weinen. Ihr Geschrei mischte sich mit dem Lachen kleiner Mädchen und der stampfenden Musik rebellischer Teenager. In der Luft hing schwach ein Geruch nach Marihuana.
    Rachel sah auf ihre Reitstiefel und fühlte sich plötzlich eine Million Meilen weit von allem entfernt.
    Sie war kein Snob und fürchtete in gewisser Weise sogar, dass die Menschen hier sich über sie lustig machten wegen der Art, wie sie sich hielt und wie sie redete. Sie hatte Angst, sie könnte versehentlich jemanden beleidigen oder in Schwierigkeiten geraten.
    Das Kreischen einer Polizeisirene unterbrach ihre Gedanken; auf der Hauptstraße raste ein Streifenwagen vorbei. Rachel war übel. Plastiktüten und leere Cola- und Bierdosen lagen auf dem Gelände herum. Wenn der Wind sie über den Boden schleifte, scharrten sie leise über den Beton. Der Himmel schien plötzlich eine dunkelgraue Farbe angenommen zu haben.
    Eine Gruppe von fünf kleinen Jungen ging an ihr vorbei und näherte sich dem Haupteingang des Hochhauses. Sie trugen dünne Trainingshosen und T-Shirts, obwohl es nach Regen aussah, aber sie sahen fröhlich aus und klangen auch so, während sie über ihren Tag an der Schule redeten und einen Fußball titschen ließen, dessen Aufprall laut über das Grundstück hallte.
    »Carl!«, schrie eine Frau, die sich auf die Brüstung eines Balkons im zweiten Stock lehnte. Ihr Haar war straff zurückgebunden.
    »Jaja, Mum, ich bin hier!«, rief einer der Jungen zurück. Seine Haltung hatte sich etwas versteift. Seine Freunde hörten auf, denBall zu dribbeln, und sahen auf ihre Füße; sie wollten sich nicht hineinziehen lassen.
    »Komm jetzt sofort rein! Wo warst du so lange?«, keifte die Frau.
    Der Junge antwortete nicht, sondern schlug einem seiner Freunde die Hand auf den Rücken, dann eilte er durch den Haupteingang.
    Der Parkplatz, bemerkte Rachel nun, stand voll mit alten BMW s und Firmenfahrzeugen mit grellen Aufschriften, die alle dringend gewaschen werden mussten. Ein junger Mann, der noch nicht zwanzig sein konnte, saß in einem Kastenwagen und füllte Formulare mit einem Kugelschreiber aus. Nach seinem frustrierten Kritzeln am Seitenrand zu urteilen, war der Kuli leer. Er schüttelte ihn ärgerlich, dann warf er ihn aus dem Fenster; der Kuli kullerte über den Boden und blieb vor Rachels Füßen liegen.
    Sie machte einen Schritt zurück. Konnte sie einfach nach Hause gehen und die ganze Sache vergessen? Sie stellte sich Ritas Gesicht vor und fand es noch schwieriger weiterzumachen. Dann sah sie Edwards Gesicht vor sich, wie es entsetzt zusammenfiel, weil sie das große Familiengeheimnis entdeckt hatte.
    Sie machte noch einen Schritt zurück, dann wieder einen; ihre Beine zuckten und drängten sie zu verschwinden.

22
    Es war undenkbar.

    Dienstag, 26. Mai 2009
    Angel, Nord-London
    14.30 Uhr
    »Komm mit.«
    Mehr sagte er nicht. Er stand vor Bryony, die schwarze Schürze voller Kakaostaub, einen langen Schmierstreifen davon auf der mit Bartstoppeln bedeckten linken Wange. Seine Körpersprache verbreitete Selbstsicherheit: ein sexy Grinsen, die Arme leicht vorgestreckt, die Füße auf Schulterbreite auseinander, die Handflächen geöffnet nach oben   –

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