Ein Tag im Maerz
und sie hat es mir alles verschwiegen? Was ist denn damit, wie ich mich fühlte, als ich es herausgefunden habe?«, rief Rachel und schlug mit der freien Hand in grenzenloser Frustration durch die Luft. Die Schöße ihrer schwarzen Jacke flatterten im Wind. Ihr Haar, das wieder blond gefärbt worden war, trug sie in einem straffen Pferdeschwanz; sie war nicht geschminkt. Ihre Augen waren verquollen, weil sie die ganze Nacht nicht geschlafen hatte.
»Na, das ist aber eine schreckliche Einstellung, Rachey. Komm schon.« Richard trank gerade einen Schluck Bier. Rachel hörte deutlich, wie das Glas gegen seine Zähne schlug, während er schluckte.
»Okay, okay, ich weiß, das klingt übel. Aber ich will eben nicht, dass Mum … Rita, meine ich … Gott, ich meine Mum …ich will nicht, dass sie davon erfährt, weil ich sie schützen will – kapierst du das nicht? Begreifst du nicht, dass ich im Zwiespalt bin?«, fragte sie und zermalmte eine weggeworfene Chipstüte unter der Spitze ihres rechten Schuhs. Sie machte einen zufriedenstellenden Knirschlaut, als wären ganz unten noch ein paar Chips übrig gewesen.
»Pass auf, ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer, dass ich finde, du solltest nach Hause gehen, Süße. Sprich vorher mit deiner Mum, meine Güte – du bist wirklich selbstsüchtig.« In Richards Stimme war Zorn.
»Ach … weißt du was? Leck mich am Arsch!«, sagte Rachel, dann legte sie auf und warf das Handy in ihre Tasche von Mulberry.
Ihr Magen zog sich vor Angst zusammen. Womöglich hatte er recht. Vielleicht sollte sie Rita wenigstens sagen, was sie plante. War sie es ihr nicht schuldig? Aber dann stellte sie sich Ritas Gesicht vor, die Enttäuschung, die sie unweigerlich empfinden musste; eventuell sogar Wut … Es hatte seinen Grund, weshalb ihre Eltern ihr die Adoption verschwiegen hatten, und das wollte sie respektieren, auch wenn sie wütend war über die Art und Weise, wie sie davon hatte erfahren müssen. Wenn sie zu Hause war, schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und versuchte ihre Desorientierung und ihre Fragen loszuwerden, indem sie sich ihre Lieblingsbands in endloser Wiederholung anhörte.
Ihre leibliche Mutter aufzuspüren war erstaunlich einfach gewesen, nachdem sie sich einmal dazu entschlossen hatte; die Entscheidung anzufangen war das Schwierige daran gewesen. Rachel hatte das Internet durchforstet und die Geschichten anderer Menschen gelesen; sie war Hunderte von Forendiskussionen durchgegangen und hatte stapelweise Artikel von überall auf der Welt gelesen. Sie las, wie mancher es bedauerte, seine leiblichen Eltern aufgespürt zu haben, weil er von ihnen abgelehnt wurde oder sie selbst verabscheute, was noch mehr Desorientierung in den ohnehin überquellenden Schmelztiegel der Emotionen warf. Andererseits las sie auch von Menschen, die der Ansicht waren, sie hätten niemals etwas Besseres tun können. Von Menschen, die sagten, dass das Finden ihrer leiblichen Eltern alle Fragen beantwortet habe, die sie gequält und in der Nacht wach gehalten hatten. Einige hatten sogar ein positives Verhältnis zu den Eltern gefunden, von denen sie weggegeben worden waren.
Warum wollte Rachel ihre leibliche Mutter finden? Wollte sie ihre richtige Familie kennenlernen, wollte sie erfahren, wie ihre leiblichen Verwandten aussahen, wollte sie wissen, weshalb sie zur Adoption freigegeben worden war? Oder tat sie alles nur aus Trotz? Sie war sich nicht sicher.
Als Erstes hatte sich Rachel die Adoptionspapiere aus der Kassette unter dem Bett geholt, als Rita und Edward zu einer Hochzeit nach Spanien verreist waren. Sie hatte sie kopiert, dann wieder in die Ablage getan, um sie nie wieder anzurühren. Über eine staatliche Website hatte sie dann Kontakt mit Adoptionsagenturen aufgenommen, und nachdem sie von einer Abteilung zur anderen weitergereicht worden war, hatte sie endlich die Stelle gefunden, die für ihren Geburtsbezirk zuständig war. Rasch erfuhr sie, dass ihre Mutter eindeutig die Bereitschaft erklärt hatte, ihre Tochter kennenzulernen, sollte diese nach ihr suchen.
Jetzt war der Moment gekommen.
Rachel wusste nur wenige Dinge. Sie wusste, dass ihre Mutter Lisa Reid hieß. Von ihrem Vater war nie die Rede: Die Behörden schienen nichts über ihn zu wissen. Sie hatte die Adresse ihrer Mutter zum Zeitpunkt der Entbindung erfahren, gegoogelt und herausgefunden, dass es sich um eine Sozialwohnung in einem Hochhaus handelte, das der Stadt gehörte. Ihr erster
Weitere Kostenlose Bücher