Ein Tag im Maerz
Zeit.«
»Aber es geht jetzt schon so lange, na ja, wenigstens für eine Familie – mehrere Wochen. Habe ich mich falsch verhalten, indem ich meinen Sohn nicht unterstützte? Ich muss ständig an den armen Mann denken, an Max Tooley. Er war ein guter Mensch … Ich bekomme sein Gesicht einfach nicht aus dem Kopf. Die ganze Zeit ist es da. Es ist einfach entsetzlich. Ich weiß einfach nicht, wieso Keon es getan hat – mir kommt es vor, als kenne ich ihn gar nicht mehr.«
»Und Sie haben nie versucht, Ihren Sohn zu besuchen?«, fragte der Pfarrer sanft.
»Nein. Dazu bin ich viel zu wütend auf ihn. Ich habe Angst vor dem, was ich vielleicht zu ihm sage, und davor, wie ich mich danach fühle.«
»Glauben Sie denn, Sie könnten es vielleicht versuchen?«
»Ich glaube nicht einmal, dass ich es will, jedenfalls noch nicht. Wie kann man seinem Sohn verzeihen, dass er so etwas Ungeheuerliches getan hat? Halten Sie das überhaupt für möglich?«
»Selbstverständlich halte ich es für möglich, Mrs. Hendry. Das ist das Besondere an der Familie – und auch an der Freundschaft. Sie wären überrascht, wie reinigend es sein kann, seine Wut beiseitezuschieben und zu vergeben. Ich könnte mir vorstellen, dass es auch Ihrem Sohn sehr gut täte …« Er wurde immer leiser und verstummte ganz.
Tynice ertappte sich, dass sie fast wütend darüber war, wie einfach er es klingen ließ. Wie sehr er mit Keon zu sympathisieren schien. Wie schlecht sie nun dastand, wo sie doch immer versucht hatte, Keon zu einem wunderbaren jungen Mann aufzuziehen.
Sie schämte sich, dass sie noch nicht bei ihm gewesen war.
Sie nahm einen großen Schluck Tee und spürte, wie die süße Hitze ihre widersprüchlichen Emotionen beruhigte. In der vergangenen Woche hatte sie Keons Exfreundin Charlotte in der Post gesehen, wie sie lächelnd am Handy mit jemandem scherzte. Sie erinnerte sich daran und kehrte zu dem Moment zurück, als Keon ihr Charlotte vorgestellt hatte; wie schön sie gewesen war. Tynice hatte damals wirklich geglaubt, aus ihm könnte ein guter Mann werden …
Ihre Gedanken wurden unterbrochen.
»Halten Sie es für möglich, dass Sie wieder regelmäßig in die Kirche kommen, Mrs. Hendry?«
Sie dachte einen Augenblick lang darüber nach. Würden die Leute auf der Kirchenbank deutlichen Abstand zu ihr lassen? Würden sie Tynice beim Kaffee nach dem Gottesdienst schneiden? Wären sie kühl zu ihr, so wie sie ihrem eigenen Sohn gegenüber?
»Ich bin noch nicht so weit. Es tut mir leid. Ich muss auch heute gehen, bevor die anderen kommen«, sagte sie und blickte auf ihre kleine schwarze Armbanduhr, voller Furcht und Eile.
»Was ist mit Reb? Sind Sie nicht der Meinung, hier zu sein würde ihr gut tun?«, stocherte Father Dewry weiter.
»Vielleicht. Ich rede heute Abend mit ihr und frage sie, was sie davon hält«, entgegnete Tynice, aber sie wusste, dass Reb ohne sie vermutlich nicht wieder zur Kirche gehen würde. Diese Tragödie hatte auch von ihr einen Preis gefordert. Ihre Tochter war nicht mehr sie selbst, und das allein war für eine Mutter schwer einzugestehen. »Hören Sie, ich muss los«, sagte Tynice und erhob sich.
»Bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen sagen, dass Sie hier immer willkommen sein werden. Was die Vergebung angeht, so kommt sie mit der Zeit vielleicht, und ich wünsche Ihnen das sehr.« Seine tiefe, ruhige Stimme betonte jedes Wort wunderschön im Stile eines Mannes, der wahr und weise zu Menschen spricht, die sich vielleicht und vielleicht nicht zureden lassen wollen.
»Ich danke Ihnen. Und ich danke Ihnen, dass Sie heute Zeit für mich hatten, Father. Ich hoffe, ich komme bald wieder«, sagte Tynice. Vorsichtig schob sie sich durch den engen Raum vor der Kirchenbank und ging nach hinten. Ihre Absätze klackten laut und wurden immer leiser, als sie das Gotteshaus verließ.
Father John blieb noch einige Minuten sitzen und dachte still nach.
Tynice glaubte schon, sie wäre entkommen, ohne von einer ihrer alten Freundinnen entdeckt zu werden, doch der Anblick eines rosaroten Hutes auf der Straße vor der Kirche bewirkte, dass ihr das Herz in die Magengrube sank.
Diesen Hut kannte sie gut. Sie hatte ihn sogar bewundert und selbst anprobiert.
Er gehörte Maggie Brewster, einer Frau von vierzig Jahren, die zu ihren besten Freundinnen in der Kirche gezählt hatte. Allein ihr Anblick verursachte Tynice einen tiefen Schmerz – Maggie gehörte zu den Menschen, denen sie es am meisten
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