Ein Tag im Maerz
dass sie gleich waren. Seine Soutane sank schwer herab wie ein letzter Atemzug. Er hatte nicht vor ihr stehen und sie überragen wollen wie ein Richter. Er wurde von der Gemeinde sehr respektiert und kannte den Grund dafür: weil er wusste, dass er auch nur ein Mensch war und darum auf dieserEbene den Menschen ein Freund sein musste. Er legte die Hände auf das kühle Holz der Kirchenbank und ließ Tynice weinen.
Nachdem »es« geschehen war, hatte Father Dewry ihr angeboten, sie zu besuchen und nach ihr zu sehen, doch Tynice hatte sich zu sehr geschämt, um darauf einzugehen.
»Die Sache ist … die Sache ist die …«, sagte Tynice und senkte das Gesicht, auf dem Dutzende neuer Fältchen erschienen waren, die es im letzten Jahr noch nicht gegeben hatte, wieder in das Taschentuch, »… ich kann meinem Sohn nicht vergeben.« Zwischen heftigen Atemzügen stieß sie es hervor. Ihre Brust hob und senkte sich, als schwimme sie gegen eine starke Strömung an, als kämpfe sie gegen etwas, das größer und weitaus mächtiger war als sie. »Ich habe ihn nicht besucht. Nicht ein einziges Mal. Ich kann es nicht, Father. Ich habe Angst vor ihm und vor dem, was er getan hat.« Das so sorgsam aufgetragene Make-up rann ihr die Wangen hinunter und hinterließ rußige Schmierstreifen.
Father Dewry fuhr sich mit schmalen, trockenen Händen das Gesicht entlang und zog seine Wangen noch tiefer herunter. In seinen Augen war ein verzweifelter Ausdruck, doch Tynice sah es nicht, weil sie ihn noch immer nicht ansehen konnte.
»Ich kann seine Tat nicht akzeptieren, ich kann nicht in seiner Nähe sein, ich kann ihn nicht einmal ansehen«, fügte sie hinzu.
Eine ältere Dame mit gebeugtem Rücken schlurfte aus einem kleinen Hinterzimmer, in den zittrigen Händen eine Tasse Tee, die auf der Untertasse schepperte. Sie ging auf Tynice zu und zögerte kurz, als sie ihren Gefühlsausbruch bemerkte, dann setzte sie ihren Weg fort und stellte den Tee mit lautem Klirren neben sie auf die Bank.
»Danke«, sagte Tynice und neigte den Kopf, ehe die Dame sich rasch entfernte und sich zwischen zwei gewaltige rote Vorhänge duckte, hinter denen sich ein geheimnisvoller Teil derKirche befand, den die Leute normalerweise nicht betraten. Als Kind hatte Keon immer nach diesem Teil der Kirche gefragt, und Tynice hatte nie gewusst, was sie ihm antworten sollte; sie hatte seine Fragen abgewiesen und seine Wissbegier nicht gefördert. Heute warf sie es sich vor.
Das war nur einer der vielen Gedanken, die sie wälzte, wenn sie schlaflos im Bett lag und sich fragte, ob sie an dem, was geschehen war, die Schuld trug. Keon war bis zum Alter von ungefähr zehn Jahren ein außergewöhnlich aufgewecktes Kind gewesen und hatte so viele Fragen über die Welt gehabt, dass sie sich von seiner ständigen Fragerei erschöpft fühlte und zugleich über ihr eigenes Unwissen entsetzt war. Als er mit fünf Jahren danach fragte, wie der Mond am Himmel hänge, musste sie in der Stadtbibliothek Bücher wälzen, ehe sie ihm eine Antwort geben konnte. Einmal war sie im Bus hochrot angelaufen, als er sie lautstark fragte, wie viel sieben mal neun sei und sie das Ergebnis nicht wusste. »Pst, Keon, Baby«, hatte sie geflüstert, aus dem Fenster geblickt und die Frage ignoriert, während die Mitpassagiere die Köpfe zur Seite neigten und ihn anlächelten. Er war ein hübsches Kind gewesen. Sie erinnerte sich noch, wie sie ihn betrachte, als er an einem Samstagmorgen fernsah, und vom Stolz so überwältigt war, dass es wehtat. Für Keon war alles ein Geheimnis gewesen, das entdeckt werden konnte, und sie hatte es für ein Anzeichen einzigartiger Intelligenz und eines Wissensdurstes gehalten, wie sie sich in der Familie noch nie geäußert hatten. Ihre Familie kam aus einfachen Verhältnissen, und keiner ihrer Verwandten hatte je die Universität besucht, eine große Karriere gemacht oder einen Titel errungen; sie hatte gehofft, dass vielleicht Keon der Erste wäre, der aus diesem Rahmen ausbrach. In stiller Enttäuschung hatte sie dann zusehen müssen, wie seine Wissbegier mit dem Einbruch der Pubertät vonihm abfiel und er ihren Ermahnungen, seine Hausaufgaben zu machen, mit lautem Protest und zugeknallten Türen begegnete.
»Zu akzeptieren, was jemand getan hat, besonders in solch einem Fall, ist sehr schwierig, Mrs. Hendry, und ich kann mir vorstellen, dass Ihre Situation Sie zutiefst herausfordert – gelinde ausgedrückt. Ich glaube sehr, Sie benötigen
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