Ein Tag im Maerz
besuchte sie das Gotteshaus seit Anfang März zum ersten Mal wieder. Ihr dichtes dunkelbraunes Haar hatte sie sich zu einem ordentlichen Knoten hochgebunden. Ein wenig sah sie so aus, als ginge sie zu einer Beerdigung.
Father John Dewry stand vor ihr. Sie saß nervös auf einer Bank ganz vorn in der riesigen Kirche. Strahlender Sonnenschein fiel durch die Buntglasfenster und erfüllte alles mit dem majestätischen Licht, das sie so sehr vermisst hatte.
Bis die übrigen Mitglieder der Gemeinde eintrafen, verging noch eine Stunde. Dann kämen hübsche, kichernde Kinder in Anzug oder Kleidchen, ältere Damen im besten Putz, jüngere Männer und Frauen im Sonntagsstaat, alle bereit für ihre wöchentliche Feier von Gottes Herrlichkeit.
Tynice wollte niemanden von ihnen sehen. Sie brauchte dieses Treffen fernab der neugierigen Augen und Ohren der Gemeinde. Und, wie sie hoffte, fernab ihres Urteils …
»Guten Morgen, Mrs. Hendry«, sagte Father Dewry, dieHände vor der langen schwarzen Soutane verschränkt. »Ich freue mich, Sie wiederzusehen.«
Tynice senkte den Kopf ein wenig, als schämte sie sich. Sie setzte einen Fuß vor, und ihr Absatz scharrte hell über den dunkelroten Fliesenboden. Sie verzog leicht, ein wenig entschuldigend, das Gesicht. »Es tut mir leid, dass ich so lange nicht hierhergekommen bin, Father«, sagte sie. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Nervös zupfte sie an der Strumpfhose am Knie, eine Angewohnheit aus Teenagertagen.
Father Dewry hielt inne, als müsste er sich überlegen, was er sagen sollte, und strich sich das kurze graue Haar mit der rechten Hand glatt. Sein Gesicht war schmal, blass und verschlossen, seine Augen von einem kühlen Grau. Er wirkte noch älter als im März, doch vielleicht lag das allein an der Art, wie Tynice heute die Welt betrachtete: Alles hatte sich verändert.
»Mir ist klar, dass die Situation für Sie ungewöhnlich war, Mrs. Hendry, und ich kann Ihnen versichern, dass Sie, Reb und Keon von der Gemeinde sehr vermisst werden«, sagte er nüchtern, und seine Stimme tanzte vielsagend durch die Weite des Kirchenschiffs.
Ihr Klang flößte Tynice die Kraft ein, den Kopf zu heben. Sommerblumen, von engagierten Freiwilligen zu kunstvollen Sträußen arrangiert, standen stolz in den Vasen auf den Steinsockeln. Tynice spendeten sie Trost, auch wenn sie nicht sagen konnte, wie und wieso, und plötzlich fiel ihr eine Träne aus einem Auge. Sie wischte sie rasch mit einem weißen, gestärkten Taschentuch auf. Rascher als erwünscht waren ihre Gefühle an die Oberfläche getreten, doch Father Dewrys Worte hatten sie ins Mark getroffen. In ihnen lagen eine Freundlichkeit und eine Vergebung, die größer waren als Tynice und alles, was der Menschheit je geben zu können sie sich vorzustellen vermochte.
Seit der Nacht des Schusses hatte Tynice die Kirche gemieden. Die Sonntagsgemeinde, die sie einmal als fröhliche Familie betrachtet hatte, war ihr mit einem Mal finster und abweisend erschienen. Jeder wusste, was geschehen war, von der Postangestellten bis zum Friseur. Das Gesicht ihres Jungen hatte auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen geprangt. Die meisten Menschen wussten nun, wer er war – nur aus den falschen Gründen. Entgegen ihrer Befürchtung hatte niemand sie offen kritisiert oder beschimpft, aber wenn sie in den Eckläden oder den Supermärkten Bekannte sah, kam auch niemand zu ihr und grüßte sie. Ihr persönlicher Umkreis war mit einem Mal vollgepackt mit Fremden, die früher Bekannte gewesen waren.
Ihre Tochter hatte in der Schule ähnliche Probleme. Die Mädchen in ihrer Klasse schnitten sie; die Freundinnen, mit denen sie früher stundenlang hatte schwatzen können, hatten ihr nichts mehr zu sagen. In den Geschäften wandten sie die Augen ab und konzentrierten sich auf etwas anderes – Cornflakespackungen, Einwegfeuerzeuge, Shampooflaschen, ganz gleich was, sie blickten es angestrengt an und taten so, als hätten sie Reb nicht gesehen, obwohl sie sich früher darum gerissen hatten, von ihr als Freundin betrachtet zu werden. Bis »es« geschehen war.
Die Reaktion der Menschen war schmerzlich.
Tynice riss sich so weit zusammen, dass sie mit klarer Stimme zusammenhängend antworten konnte. »Ich danke Ihnen für Ihre Worte«, sagte sie. »Sie ahnen nicht, wie viel sie mir bedeuten.«
»Ich war furchtbar traurig, als ich hörte, was geschehen war«, entgegnete Father Dewry, kam ans Ende der Bank und setzte sich neben sie, ein Zeichen,
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